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8.1. Come to where the Plato is
8.2. Immanuel Kant
8.3. Parmenides: Vom Wesen des Seienden
8.4. Die Logik der Lehre von der Leere: Die Shunyata des Nagarjuna

8. Philosophie

8.1. Come to where the Plato is

@:PLATO_PHIL
I am plagiarizing here a well-known cigarette commercial. I do it with the best intentions, though, so I hope to be forgiven. I do it to ensure that all the toil of the commercial writers was not completely in vain and served to produce at least one thing useful for the enlightenment of humanity, besides enticing millions of people to cultivate their own private lung-cancer.

Unfortunately, I have to include the german versions. I just can't translate it all. There are more pressing things that I need to devote my precious time to. Ars longa, vita brevis. And I wouldn't be under such a pressure if I didn't know damn well how little time we have all got left. There should be readily available english translations through the Berkeley texts, and possibly as ASCII on the internet. As usual, it is only a question to know where it is, and how to get it, and then having the right internet connection that doesn't let you wait for hours for every request so you cumulatively spend a day just trying to get it [114].

8.1.1. Plato , Phaidros : Über die Schrift
@:PHAIDROS

8.1.1.1. PHAIDROS 274 c

Sokrates: Ich habe also gehört,(88) zu Naukratis in Agypten sei
einer von den dortigen alten Göttern gewesen, dem auch der Vo-
gel, welcher Ibis heißt, geheiligt war, er selbst aber, der Gott,
habe Theuth geheißen. Dieser habe zuerst Zahl und Rechnung
erfunden, dann die Meßkunst und die Sternkunde, ferner das (d)
Brett- und Würfelspiel, und so auch die Buchstaben. Als König
von ganz Agypten habe damals Thamus geherrscht in der großen
Stadt des oberen Landes, welche die Hellenen das ägyptische
Theben nennen, den Gott selbst aber Ammon. Zu dem sei
Theuth gegangen, habe ihm seine Künste gewiesen und begehrt,
sie möchten den anderen Agyptern mitgeteilt werden. Jener frag-
te, was doch eine jede für Nutzen gewähre, und je nachdem ihm,
was Theuth darüber vorbrachte, richtig oder unrichtig dünkte, e
tadelte er oder lobte. Vieles nun soll Thamus dem Theuth über
jede Kunst dafür und dawider gesagt haben, was weitläufig wäre
alles anzuführen. Als er aber an die Buchstaben gekommen, habe
Theuth gesagt: "Diese Kunst, o König, wird die Agypter weiser
machen und gedächtnisreicher, denn als ein Mittel für den Ver-
stand und das Gedächtnis ist sie erfunden." Jener aber habe
erwidert: "O kunstreichster Theuth, einer versteht, was zu den
Künsten gehört, ans Licht zu gebären; ein anderer zu beurteilen,
wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringen, die sie gebrau-
chen werden. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben aus
Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie bewirken. Denn diese

8.1.1.2. PHAIDROS 275 a

Erfindung wird der Lernenden Seelen vielmehr Vergessenheit
einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im
Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder
Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erin-
nern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die
Erinnerung hast du ein Mittel erfunden. Und von der Weisheit
bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht die Sache
selbst. Denn indem sie nun vieles gehört haben ohne Unterricht,
werden sie sich auch vielwissend zu sein dünken, obwohl sie (b)
doch unwissend größtenteils sind und schwer zu behandeln,
nachdem sie dünkelweise geworden sind statt weise."

8.1.1.3. PHAIDROS 275 b

Phaidros: O Sokrates, leicht erdichtest du uns ägyptische und
was sonst für ausländische Reden du willst.
Sokrates: Sollen doch, o Freund, in des Zeus dodonäischem
Tempel einer Eiche Reden die ersten prophetischen gewesen
sein.(89) Den Damaligen nun, weil sie eben nicht so weise waren
wie ihr Jüngeren, genügte es in ihrer Einfalt, auch der Eiche und
dem Stein zuzuhören,(90) wenn sie nur wahr redeten. Dir aber
macht es vielleicht einen Unterschied, wer der Redende ist und c
von woher er kommt. Denn nicht darauf allein siehst du, ob sich
so oder anders die Sache verhält.
Phaidros: Mit Recht hast du mich gescholten. Auch dünkt es
mich mit den Buchstaben sich so zu verhalten, wie der Thebäer sagt.
Sokrates: Wer also eine Kunst in Schriften hinterläßt und auch
wer sie aufnimmt, in der Meinung, daß etwas Deutliches und
Sicheres durch die Buchstaben kommen könne, der ist einfältig
genug und weiß in Wahrheit nichts von der Weissagung des
Ammon, wenn er glaubt, geschriebene Reden wären noch sonst
etwas als nur demjenigen zur Erinnerung, der schon das weiß, d
worüber sie geschrieben sind.
Phaidros: Sehr richtig.
Sokrates: Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phai-
dros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich: Denn
auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie
aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso
auch die Schriften. Du könntest glauben, sie sprächen, als ver-

8.1.1.4. PHAIDROS 275 d

stünden sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesag-
te, so enthalten sie doch nur ein und dasselbe stets. Ist sie aber
einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleicher- e
maßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen,
für die sie sich nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden
soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdien-
terweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn
selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen.
Phaidros: Auch hierin hast du ganz recht gesprochen.
Sokrates: Wie aber? Wollen wir nicht nach einer anderen Rede

8.1.1.5. PHAIDROS 276a

sehen, der Schwester von dieser, wie die echte entsteht und
wieviel besser und kräftiger als jene sie gedeiht?
Phaidros: Welche doch meinst du, und wie soll sie entstehen?
Sokrates: Welche mit Einsicht geschrieben wird in des Ler-
nenden Seele, wohl imstande, sich selbst zu helfen, und wohl
wissend, zu reden und zu schweigen, gegen wen sie beides soll.
Phaidros: Du meinst die lebende und beseelte Rede des wahr-
haft Wissenden, von der man die geschriebene mit Recht wie ein
Schattenbild ansehen könnte.

@:SHADOW
Sokrates: Allerdings eben sie. Sage mir aber dieses, ob ein ver- b
ständiger Landmann den Samen, den er vor anderen pflegen und
Früchte von ihm haben möchte, recht eigens im heißen Sommer
in einem Adonisgärtchen (91) bauen und sich freuen wird, ihn in
acht Tagen schön in die Höhe geschossen zu sehen? Oder ob er
dieses nur als ein Spiel und bei festlichen Gelegenheiten tun wird,
wenn er es ja tut; jenen aber, womit es ihm Ernst ist, nach den

8.1.1.6. PHAIDROS 276 b

Vorschriften der Kunst des Landbaues in den gehörigen Boden
säen und zufrieden sein, wenn, was er gesät, im achten Monat
seine Vollkommenheit erlangt?
Phaidros: Gewiß so, o Sokrates, würde er dieses im Ernst, c
jenes, wie du sagtest, nur anders tun.
Sokrates: Und sollen wir sagen, daß, wer vom Gerechten,
Schönen und Guten Erkenntnis besitzt, weniger verständig als
der Landmann verfahren werde mit seinem Samen?
Phaidros: Keineswegs wohl.
Sokrates: Nicht zum Ernst also wird er sie ins Wasser
schreiben, (92) mit Tinte sie durch das Rohr aussäend mit Wor-
ten, die doch unvermögend sind, sich selbst durch Rede zu
helfen, unvermögend aber auch, die Wahrheit hinreichend zu
lehren?
Phaidros: Wohl nicht, wie zu vermuten.
Sokrates: Freilich nicht; sondern die Schriftgärtchen wird er (d)
nur Spieles wegen, wie es scheint, besäen und beschreiben.
Wenn er aber schreibt, um für sich selbst einen Vorrat von Erinnerun-
gen zu sammeln auf das vergeßliche Alter, wenn er es etwa er-
reicht, und für jeden, welcher derselben Spur nachgeht: so wird
er sich freuen, wenn er sie zart und schön gedeihen sieht; und
wenn andere sich mit anderen Spielen ergötzen, bei Gastmählern
sich benetzend und was dem verwandt ist, dann wird jener statt
dessen seine Rede spielend durchnehmen.
Phaidros: Ein gar herrliches, o Sokrates, nennst du neben den

8.1.1.7. PHAIDROS 276 e

geringeren Spielen : das Spiel dessen, der von der Gerechtigkeit
und dem, was du sonst erwähntest, dichtend mit Reden zu
spielen weiß.
Sokrates: So ist es allerdings, Phaidros. Weit herrlicher aber,
denke ich, ist der Ernst mit diesen Dingen, wenn jemand nach
den Vorschriften der dialektischen Kunst, eine gehörige Seele
dazu wählend, mit Einsicht Reden sät und pflanzt, die sich selbst
und dem, der sie gepflanzt, zu helfen imstande und nicht 277a
unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, woraus einige in
diesen, andere in anderen Seelen gedeihen und eben dieses un-
sterblich zu erhalten vermögen, und die den, der sie besitzt, so
glücklich machen, wie einem Menschen nur möglich ist.
Phaidros: Allerdings ist etwas noch weit Herrlicheres, was du
hier sagst.

PLATO-WERKE , Vol. V
This is about Plato and writing. The second part is about the seventh letter. For philosophical and philological readers: It is an essay that I wrote just a little bit "tongue in cheek", but it has entirely serious backgrounds. Unfortunately, because Plato wasn't known to have had any sense of humor, the philosophy profession seems to have followed him in this strictly, no matter how much they might have disagreed with him otherwise. There is something entirely essential about Umberto Eco 's (nomme della rosa) treatment of the famous lost book of Aristoteles on laughing. Philosophy has lost this essential thing, and never regained it, when she became the handmaiden of theology, because theologians are for sure not known for their sense of humor. The last time, we heard a god laughing, was in the greek epos, in Homer. After that: deadly serious business, this business of god-and-men. Brrr, shudder. I wish I were in ancient Greece. Thank you, Umberto, and I hope you will get to read this one day, even if you are probably too busy writing another book so that you have no time any more to read other people's innocent philosophical jokes.

8.1.2. Plato, die Tinte und die Wälder
Im Verein mit Issa ben Jussuf , Buddha und Aristoteles gebührt Plato der Ruhm, der Mensch unter den Menschen zu sein, vor dessen Altar tausende und abertausende hochgelehrter Denker die Stunden, Tage und Jahre ihrer kostbaren Lebenszeit opferten, um zu ergründen, was der Sinn seiner Worte war. Tausende von Litern Tinte wurden verbraucht, ganze Wälder dieser Erde wurden vermahlen, um die Tausende von Tonnen Papier zu erzeugen, auf die man die Gedanken dieses Mannes, und die Gedanken der Tausende von Männern, die seinen Gedanken folgten, niederschrieb. Insofern war Plato der Hauptleidtragende seines eigenen Ausspruchs im Phaidros:

Und jedes Wort, das einmal geschrieben ist, treibt sich in der Welt herum, - gleichermaßen bei denen, die es verstehen, wie bei denen, die es in keiner Weise angeht, und es weiß nicht, zu wem es sprechen soll und zu wem nicht. Wird es mißhandelt oder zu Unrecht getadelt, dann bedarf es des Vaters immer als Helfers; denn selber hat es sich zu wehren oder sich zu helfen nicht die Kraft.

8.1.3. Der Hintereingang zu Plato: Die Briefe
Das Leerstellendenken ist die "gerade so gut wie mögliche" Strukturierung all dessen, was unstrukturierbar, undenkbar, und unsichtbar ist. Mithin ist es eine Methode der Suche nach der philosophischen Hintertreppe. Diese Hintertreppe zu Plato sind seine Briefe. Während in den "offiziellen" Werken Platos dieser selber persönlich überhaupt nicht erscheint, sondern nur seine Pappkameraden für sich argumentieren (den Krieg austragen) läßt, und er selber sozusagen körperlos, immateriell, wie der Geist über den Wassern schwebt, mithin pure Idee und damit völlig absolut (abgelöst) ist - erscheint er uns in seinen Briefen plötzlich als Plato der Mensch mit all seinen Hoffnungen, Wünschen, Enttäuschungen und Verbitterungen, von denen er in seinem langen Leben auch zur Genüge gekostet hatte. Sogar als treusorgender Oheim, der die zur Verheiratung seiner Nichten notwendige Mitgift aus seinen nicht allzu reichlichen Mitteln aufbringen muß, erscheint er uns (13. Brief).

Vielleicht sind seine Briefe auch aus diesem Grund von vielen Forschern angezweifelt worden, da ihnen ihr großer "Meister Propper" so ganz anders, menschlich, verwundbar, und gar nicht so ideal erscheint. Das paßt nicht in das Bild, das man sich von ihm gemacht hatte. Aber sogar, wenn es Fälschungen sind, sind diese Briefe von immensen Wert für uns. Es wären dann nämlich sehr gute Fälschungen. Die Detailkenntnis, die aus ihnen spricht, ist von einer Tiefe, daß nur einer, der mit dem Leben und Denken Platos sehr vertraut war, diese Briefe hätte fälschen können. Und was ist eine Autobiographie durch einen Ghostwriter schon anders als eine geschickte Fälschung der Persönlichkeit, die da portraitiert wird? Wie wir sehen werden, argumentiert Plato selber höchst überzeugend im Folgenden, daß jedes schriftliche Zeugnis vom Grunde gesehen (von der archae aus) eine Fälschung ist, sogar wenn sie von der Person selber stammt.

8.1.3.1. Plato und der ewige Kampf des Guten gegen das Böse

Platos Briefe sind ein autobiographisches Zeugnis und geben uns einen tiefen Einblick in das Leben eines Mannes, der voll der guten Absichten ist, es aber in seinem Leben nicht zustande bringt, eine einzige große gute Tat zu vollführen. Und für schlechte Taten ist seine Moral zu hoch, so daß er letztlich garnichts tut. Sie führen in geradezu klassisch-griechischer Tragödienform die unheilvollen Verstrickungen vor, in die einer geraten ist, der an das Gute im Menschen glaubt, und immer seinem hoffnungsvollen Freund und Verbündeten, (Dion heißt er) helfen will, dann aber immer in die Klauen des Bösen gerät, und diesem "mit Mühe kaum" knapp entrinnen kann - das in der Person des Erzbösewichts Dionysios [115] , dem Tyrannen von Syrakus, verkörpert ist. Wären diese Personen nicht real geschichtlich existierende Handelnde gewesen, käme man sofort auf die Idee, sich hier zu fragen, ob die Namensgebung nicht auch wieder ein literarisches Kunstprodukt ist. Man könnte also fragen, ob diese Briefe nicht also in irgendeiner Form weitergeführte Dialoge Platos mit sich selbst und dem Rest der Welt gewesen sind.

8.1.3.2. Plato und das Unhappy End

Andersherum, dies ist der Stoff, aus dem die mythoi vom Guten und Bösen gemacht werden. Die Ähnlichkeit des Dionysios mit dem archetypischen Dallas-Fiesling J.R. Ewing mit seinen ewig gegebenen und nie gehaltenen wunderschönen Versprechungen und süßen Reden ist unverkennbar, und wenn wir uns heute einen Hollywood-Rührschinken ansehen, wo eine Heldin immer wieder von den Bösewichten gefangengenommen wird, und der Held sie unter Einsatz seines Lebens retten muß, so daß man sich unwillkürlich nach der dritten Gefangennahme und Rettung fragt, was der Held denn an dieser dummen Pute wohl hat, und warum er sich nicht eine intelligentere Angebetete aussucht, es gibt doch auch schlaue Frauen, wenn man sich also solche zugegebenermaßen unter unserer philosphischen Würde stehenden Machwerke anschaut (die ich selber natürlich auch nie ansehen würde), dann fragt man sich eben unwillkürlich, ob Plato nicht ebenfalls der Mitspieler in einem solchen Hollywoodschinken gewesen ist, für das, was er da in seinen Briefen präsentiert. (ANM:HAPPY-END [116])

Die Briefe 1, 2, 3, 4, 7, 8, und 13 behandeln eine sich über diverse Jahre zwischen Platos unglücklich verlaufenen Aufenthalten am Hof des Tyrannen hinstreckende Korrespondenz, mit seinen Widersachern Dionysios I und II sowie seinem Protagonisten Dion. Das ist die Rahmenhandlung, die schon genügend Grund bietet, sich einmal ein Semester lang mit seinen Briefen zu beschäftigen. Nun aber zur Trialektik von Inhalt, Form und Substanz, von Hyle, Morphe und Ousia seiner Briefe.

8.1.4. Plato, die Sprache und die Schrift
In seiner Verstrickung mit der dunklen Macht, die nur darauf aus ist, aus seinen Lehren etwas materiell und machtpolitisch verwertbares zu ziehen, entwickelt Plato nämlich einige seiner interessantesten Gedanken zu dem Problem der Schriftlichkeit, das natürlich in direkter Beziehung zu seinen eigenen Prinzipien steht, Was er Wie in schriftlicher Form der Welt anvertrauen mag. Dazu war als Einleitung der lange Abschnitt aus dem Phaidros (274c-278b) gegeben, in dem er diese Prinzipien allgemein vorträgt. Hier aber sehen wir die direkte Auswirkung. (Brief 2, p. 25-26)

Du behauptest nämlich, ... es sei dir nicht hinreichender Aufschluß gegeben worden über die Natur des ursprünglich (archae?) Ersten. Wenn ich dich darüber aufzuklären suche, so kann das nur in rätselhaften Andeutungen geschehen, damit für den Fall, daß dieser Brief etwa abhanden kommen... und von irgend jemand hervorgeholt werden sollte, der Leser es nicht verstehe. Es verhält sich nämlich so:

Auf den königlichen Herrscher des Alls bezieht sich alles und jedes und er ist der Endzweck von allem sowie auch der Urheber von allem Schönen. Ein Zweites aber hat seine Beziehung auf das Zweite und ein Drittes auf das Dritte. Die menschliche Seele nun trägt Verlangen nach Erkenntnis der eigentlichen Beschaffenheit desselben, ... Bei dem Alleinherrscher und dem worauf meine Äußerungen (damals) gingen, findet sich von dergleichen Unvollkommenheit nichts...

Plato antwortet hier auf die Frage nach den letzten und ursprünglich ersten Dingen. Im zweiten Absatz spricht er von dem "königlichen Herrscher des Alls". Der genaue Wortlaut des Originaltexts sollte hier auf mögliche andere Bedeutungen geprüft werden. Was es mit der Beziehung des "Zweiten zum Zweiten" und des "Dritten auf das Dritte" auf sich hat, ist sehr dunkel. Was auch immer er meint, er spricht hier von einer irgendwie gearteten Trinität dieses Nichtgenannten.

Du aber erklärtest mir... du hättest selber darüber nachgedacht und seiest durch einen Fund belohnt worden. Und ich erwiderte, wenn das für bare Münze zu nehmen wäre, wie du glaubtest, so würdest du mir damit eine gewaltige Gedankenarbeit abgenommen haben. Noch niemals aber, erklärte ich, sei ich einem begegnet, der dies ausfindig gemacht hätte, und all mein Forschungseifer sei darauf gerichtet. Du aber hast es vielleicht von wer weiß wem gehört, möglicherweise bist du durch göttliche Fügung auf solche Spur geraten,... tatsächlich aber hat nichts davon wirklichen Bestand.

Sieh dich aber vor, daß diese Schriftstücke nicht in die Hände ungebildeter Leute fallen. Denn meines Bedünkens gibt es kaum etwas, was der großen Menge lächerlicher vorkäme als solche Belehrungen, wie es anderseits für die fähigen Köpfe nichts gibt, was mehr Bewunderung und Begeisterung hervorrufen könnte. Werden sie aber oftmals vorgetragen und von den Hörern immer wieder und viele Jahre hindurch vernommen, so klärt sich bei redlicher Anstrengung die Sache allmählich mehr und mehr, verlgeichbar dem Golde, das mit vieler Mühe gereinigt wird...
p. 27 unten

Am sichersten beugt man dem vor, wenn man nichts niederschreibt, sondern sich ganz ans Verstehenlernen hält. Denn was zu Papier gebracht worden ist, das entgeht auch nicht dem Schicksal der Veröffentlichung. Darum habe ich selbst noch nie etwas über diese Dinge niedergeschrieben, und es gibt keine Schrift des Platon und wird auch keine geben. Was aber die jetzt mir beigelegten Schriften anlangt, so sind sie nichts anderes als Werke des Sokrates, des verfeinerten und verjüngten Sokrates nämlich.
p. 28 Mitte
8.1.5. Der Siebte Brief: Plato's Digest
@:SEVENTH_LETTER
Der siebte Brief gibt uns dann einen Einblick in das Denken von Plato, daß wir versucht sind, hier den kleinen Schlüssel zu der kleinen Hintertür von Platos Gesamtwerk zu sehen. Plato schrieb diesen Brief in seinen letzten Lebensjahren, und als ob er den offenen oder unbewußten Wunsch gehabt hätte, hier ein Resumee seines ganzen Lebens zu geben, erfahren wir hier Zusammenhänge, die uns einen "Reader's Digest" des Lebens und Wirkens Platos, also einen "Plato's Digest" ahnen lassen. Er erzählt uns von seinen politischen Verwicklungen und Entäuschungen in seinen Jugendjahren, seine bitteren Enttäuschungen, seinen Schmerz um die Verurteilung des Sokrates, seinen Rückzug in die innere Emigration, seine so gründlich enttäuschte Hoffnung, in Syrakus eine Gelegenheit zur Verwirklichung seiner Ideen zu finden, seine Hoffnungen, die er auf Dion gesetzt hatte, seine nie enden wollenden Verwickelungen mit den Ränken des Dionysios. In diese menschliche, allzu menschliche "never ending story" eingebettet, finden wir einige Kernsätze seines Denkens, so als ob er hier einmal, und nie wieder, den Außenseitern, die die nicht durch seine Schule gegangen waren, den idiotas also (wie Cusanus gesagt hätte), einen Einblick gewähren wollte, den er sonst stets sorgfältig zu verschleiern verstand.

8.1.5.1. Platos Prüfungsmethode für die philosophischen Kandidaten

Nach meiner Ankunft hielt ich es für meine erste Aufgabe, Gewißheit darüber zu erlangen, ob Dionysios in Wahrheit Feuer und Flamme für die Philosophie wäre oder ob nichts wäre an den vielen Gerüchten, die darüber nach Athen gekommen waren. Es gibt nun ein gewisses Verfahren, dies auszuprobieren,... das in der Tat ganz angemessen ist... bei solchen, die den Kopf ganz voll haben von mißverstandenen philosophischen Lehren.

8.1.5.2. Die Merkmale des guten Kandidaten

Man muß nämlich solchen Leuten die (philosophische) Aufgabe in ihrem ganzen Umfang, muß das Eigentümliche des Gegenstandes, die ganzen Schwierigkeiten und die große dazu erforderliche Mühe deutlich zu erkennen geben. Ist nämlich, wer das hört, ein wahrhafter Freund der Weisheit, ... so will er lieber auf das Leben verzichten als auf dieses Ziel. Und so mutet er denn sich und dem Führer auf diesem Weg die äußerste Anstrengung zu und läßt nicht locker, bis er entweder das Ziel erreicht oder die Fähigkeit erlangt hat, ohne den Wegweiser sein eigener Führer zu sein. Von dieser Anschauung durchdrungen... geht ein solcher seinen Berufsgeschäften zwar nach,... bleibt aber vor allem immer der Philosophie treu ergeben und bedacht auf eine alltägliche Lebensweise, die seine Fassungskraft, sein Gedächtnis, und sein Denkvermögen in innerer Nüchternheit bis zum denkbar höchsten Grade steigert (66), während die dieser entgegengesetzte ihm für immer aufs Tiefste verhaßt ist.
BIB:PLATO-BRIEFE Brief 7, p. 70 ff

8.1.5.3. Woran man den Ausschuß erkennt

Ganz anders diejenigen, die mit der Philosophie nicht wahrhaft verwachsen sind, sondern sich in dem nur äußerlichen Farbenschimmer bloßer Meinungen gefallen, gleichend den Leuten, deren Körper von der Sonne gebräunt ist: wenn sie den Umfang des Wissensgebietes und das hohe Maß der erforderlichen Anstrengung gewahr werden und sehen, daß die streng sittliche Lebensweise die einzig für diese Aufgabe passende ist, so erscheint ihnen die Sache schwierig und über ihre Kräfte hinausliegend ; sie versagen also im Dienste der Philosophie; einige von ihnen aber betrügen sich selbst mit der Einbildung, sie hätten durch das Gehörte schon eine genügende Vorstellung des Ganzen und könnten sich weitere Bemühungen sparen.

Das ist die klare und die sicherste Art der Vergewisserung bei Genußmenschen, die zu ansharrender Anstrengung unfähig sind. So geprüft, können sie die Schuld nie auf den Führer schieben, sondern nur auf sich selbst, auf ihre Unfähigkeit nämlich, alles für die Erfüllung der Aufgabe Erforderliche zu leisten.

Wir erhalten in diesen Abschnitten einige sehr intime Einblicke in seine Lehrmethode, wie er prospektive Schüler auf ihre Eignung prüft. Weiterhin gibt diese Stelle einen Einblick in das, was man das "Yoga" der platonischen Philosophie nennen könnte, also den Lebenswandel, den der Kandidat führen sollte (oder muß) um sein Ziel zu erreichen. Vergleichen wir diese Stellen mit anderen, so aus den indischen Yoga-Schriften oder aus den buddhistischen Mönchs-Anweisungen, so fällt auf, daß hier wie dort ungefähr dasselbe erscheint. Das ist wohl auch nicht sonderlich verwunderlich, da Plato seine Anweisungen sicher von den Pythagoräern hatte, welche sie von den Ägyptischen Mysterienpriestern übernommen haben.

8.1.5.4. Von der Problematik der Schriftlichkeit

In diesem Sinne wurde denn auch damals mein Vortrag (67) vor Dionysios gehalten. Ich trug ihm also nicht alles vor und Dionysios verlangte auch nicht danach. Denn vieles und gerade das Wichtigste gab er sich den Anschein schon zu wissen, zur Genüge unterrichtet durch das, was er gelegentlich von den anderen gehört hatte. Späterhin hat er, wie ich höre, über das damals Gehörte sich auch schriftstellerisch ausgelassen, als wäre das in der Schrift Mitgeteilte seine eigene Erfindung, die mit dem Gehörten nichts zu tun hätte. Mir selbst ist nichts davon vor Augen gekommen. Gewisse andere Leute haben allerdings, wie ich weiß, über eben diese Gegenstände geschrieben, doch wissen sie selbst nicht über sich Bescheid (68). So viel indes kann ich von allen versichern, die darüber geschrieben haben und schreiben werden und die sich für wohlunterrichtet ausgeben über den Inhalt meiner philosophischen Bestrebungen, mögen sie es nun von mir gehört haben wollen oder von anderen oder mögen sie es selbst gefunden haben: sie verstehen von der Sache gar nichts; meiner Meinung nach wenigstens ist das ganz unmöglich. Wenigstens gibt es von mir selbst keine Schrift darüber und wird auch keine geben.

8.1.5.5. Die völlig andere Natur der Lehre, die die Schrift transzendiert

@:PLATO_AUTOPOIESIS
Denn es steht damit nicht so, wie mit anderen Lehrgegenständen: es läßt sich nicht in Worte fassen, sondern aus lange Zeit fortgesetztem, dem Gegenstande gewidmetem wissenschaftlichen Verkehr und aus entsprechender Lebensgemeinschaft tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst. So viel weiß ich indes, daß es am besten immerhin noch von mir selbst vorgetragen würde, nicht minder auch, daß es bei schlechter schriftlicher Abfassung mir sehr viel Herzenskummer bereiten würde.

8.1.5.6. Das Wesentliche ist nicht aufschreibbar

Wäre es aber meiner Ansicht nach möglich, diese Dinge in einer für das Publikum befriedigenden Weise niederzuschreiben oder mündlich vorzutragen, was könnte ich dann für ein schöneres Werk aufweisen in meinem Leben als der Menschheit durch solche Schrift ein großes Heil zu bescheren und das Wesen der Dinge für alle ans Licht gezogen zu haben? Aber meines Erachtens bringt ein dahin gerichteter (69) Versuch schwerlich einen Gewinn für die Menschen, höchstens für die wenigen, die auf einen kleinen Wink hin selbst imstande sind es zu finden; die übrigen aber würden dadurch sehr zum Schaden der Sache teils mit einer übel angebrachten Verachtung der Philosophie erfüllt werden teils mit einem ganz übertriebenen und hohlen Selbstbewußtsein, als wären sie im Besitze wer weiß welcher hohen Weisheit.

Doch empfiehlt es sich, wie ich mir sage, mich darüber noch etwas ausführlicher auszulassen. Denn vielleicht dürfte meine obige Behauptung (70) durch diese Ausführung noch mehr Licht erhalten. Es gibt eine unwiderleglich wahre Gegeninstanz gegen jeden Versuch, irgend etwas der Art schriftmäßig zu behandeln, oft genug von mir schon früher besprochen, doch wert, wie es scheint, auch jetzt wieder zur Sprache gebracht zu werden.

8.1.5.7. Die notwendigen Voraussetzungen der Erkenntnis

Für jedes Ding kommen als notwendige Voraussetzungen seiner Erkenntnis drei Punkte in Betracht (71), --
- als vierter Punkt aber die Erkenntnis selbst,
- als fünftes muß man dasjenige setzen, was der eigentliche
Gegenstand der Erkenntnis und das wahrhaft Seiende ist --

1) nämlich erstens der Name (onoma),
2) zweitens der Begriff (logos),
3) drittens das Abbild (eidolon),
4) viertens die wissenschaftliche Erkenntnis (episteme) (72).
5) das Seiende, die Idee

Will man sich das damit Gesagte klar machen, so halte man sich an ein bestimmtes Beispiel, das uns zum Verständnis aller möglichen Fälle verhelfen soll.

ad 1) "Kreis" z. B. ist ein sprachlich bezeichnetes Ding, dem eben der Name zukommt, den wir jetzt aussprechen.

ad 2) [Die Definition:] Das Zweite ist dann der Begriff des Kreises, der sich zusammensetzt aus Haupt- und Zeitwörtern, nämlich "was allseitig von den Endpunkten bis zum Mittelpunkt die gleiche Entfernung hat", das dürfte wohl der Begriff dessen sein, was den Namen "Rund", "Gleichförmig gebogen" und "Kreis" trägt.

ad 3) Ein drittes ist dann das körperliche Bild, gezeichnet und wieder weggewischt, oder vom Drechsler hergestellt und der Vernichtung preisgegeben, Veränderungen, von denen der Kreis an sich, auf den sich alles dies bezieht, nicht betroffen wird, da er etwas davon Verschiedenes ist.

ad 4) Das Vierte sodann ist die wissenschaftliche Erkenntnis und die vernünftige Einsicht und die wahre Meinung von diesen Dingen, alles Tätigkeiten, die sich zusammenschließen zu einer Einheit, welche nicht in sprachlichen Lauten oder in körperlichen Gebärden sich geltend macht, sondern in der Seele ihren Sitz hat, wodurch denn klar wird, daß sie verschieden ist sowohl von der Natur des Kreises selbst (72) wie auch von jenen vorhergenannten Punkten.

Die Erkenntnis ist das Gedankenbild, das sich in der Seele formt. Dieses ist wohl zu unterscheiden von dem sinnlich wahrnehmbaren Bild, das man malen, sprechen, singen, oder in Material schaffen kann. Plato unterscheidet es noch von der Idee, indem er betont, daß die Idee nicht "unsere" ist, sondern für sich ist.

ad 5) Am nächsten nun nach Verwandtschaft und Ähnlichkeit steht dem fünften (der Idee) die vernünftige Einsicht, während die anderen Momente ihr ferner stehen.

Das Nämliche wie von der gerundeten Gestalt gilt natürlich auch von der geraden, und so auch von der Farbe, vom Guten und Schönen und Gerechten, von jedem Körper, dem künstlich hergestellten wie dem von Natur entstandenen, von Feuer, Wasser und allen Elementen, von jedem lebenden Wesen und jeder Seelenverfassung, von jedem Tun und Leiden.

Denn wer an einem dieser Dinge nicht irgendwie jene vier Abstufungen erfaßt hat (74), der wird niemals der Erkenntnis des fünften in vollem Maße teilhaftig werden. Dazu kommt noch, daß diese vier unteren Stufen ebenso sehr darauf ausgehen die qualitative Beschaffenheit eines jeden Dinges aufzuzeigen als das eigentliche Wesen desselben und zwar mit Hilfe der unzulänglichen sprachlichen Darstellungsmittel (75).

Daher wird kein Vernünftiger es jemals wagen das von ihm mit dem Geiste Erfaßte diesen unzulänglichen sprachlichen Mitteln anzuvertrauen und noch dazu, wenn dieselben ein für allemal festgelegt sind, wie es bei dem in Buchstaben Niedergeschriebenen der Fall ist. Zum Verständnis dessen soll uns wieder das obige Beispiel verhelfen. Jeder Kreis, der mit Mitteln der Sinneswelt gezeichnet oder von dem Drechsler hergestellt wird, zeigt eine Fülle von Eigenschaften, die in Widerspruch stehen mit jener fünften Erkenntnisstufe -- denn der sinnliche Kreis gerät überall in das Gehiet des Geraden (76) -- während, wie wir behaupten, der Kreis an sich von der gegensätzlichen Natur gar nichts an sich hat, weder viel noch wenig.

8.1.5.8. Namen sind relativ und austauschbar

Was aber den Namen der Dinge anlangt, so hat dieser keinen festen Bestand, vielmehr kann, was jetzt rund heißt (77), ohne weiteres auch gerade heißen und was gerade heißt, rund. Die Wortvertauschung und entgegengesetzte Benennung ändert an dem festen Bestand der Sache selbst gar nichts. Und auch mit der Begriffsbestimmung (Definition) steht es ebenso (78): sofern sie sich aus Haupt- und Zeitwörtern zusammensetzt, entbehrt sie durchaus der vollen Festigkeit. Und so läßt sich noch Tausenderlei anführen zum Erweis der mangelhaften Deutlichkeit dieser vier Stufen.

Die Hauptsache bleibt aber doch immer das, was wir kurz vorher anführten. Nämlich während die Seele, was die zwei genannten Beziehungen, das Wesen und die Beschaffenheit, anlangt, nicht nach der Beschaffenheit sondern nach dem eigentlichen Wesen forscht, beruft jede der vier Erkenntnißstufen in Wort und Wirklichkeit sich auf das nicht Gesuchte und da sie das Gesagte oder Vorgezeigte auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung leicht widerlegbar macht (79), bringt sie fast ausnahmslos jedermann in einen Zustand der Ratlosigkeit und Unsicherheit.

8.1.5.9. Kein Schutz gegen Sophisterei bei Dingen der fünften Stufe

Bei Gegenständen nun, bei denen wir infolge mangelhafter Vorbildung überhaupt gar nicht gewohnt sind nach der Wahrheit zu forschen, so daß schon das vorgehaltene Abbild genügt, kommt es nicht dahin, daß sich die Mitunterredner von den Hauptunterrednern, die sich auf die Zurückweisung und Widerlegung der vier Unterstufen verstehen, lächerlich gemacht sehen. Bei solchen Gegenständen dagegen, wo wir dem Antwortenden keine andere Möglichkeit lassen als auf die fünfte Erkenntnisstufe sich einzulassen und sich darüber zu erklären, da hat immer der Widerlegungskundige, wenn er nur will, gewonnenes Spiel (80) und stellt den, welcher in Rede, Schrift oder Antwort seine Gedanken zum Ausdruck bringt, der Mehrzahl der Zuhörer als einen Stümper hin auf dem von ihm in Schrift oder Wort berührten Gebiet. Dabei haben die Hörer mitunter gar keine Ahnung davon, daß eigentlich nicht das, was die Seele denkt, widerlegt wird, sondern die von Haus aus unzulängliche Natur einer jeden der vier Erkenntnisstufen.

Und mag die Beschäftigung mit diesen Fragen auch in alles eingedrungen sein und sich immer wieder bald diesem bald jenem Punkt zugewandt haben, so kommt es doch kaum dahin, daß sie ein wirkliches Wissen des seiner Natur nach Vollkommenen erzeugt und auch dies nur in einem von Natur reich beanlagten Geist. Wo es aber mit der natürlichen Anlage schlecht bestellt ist, wie es bei der großen Masse hinsichtlich der Empfänglichkeit der Seele für wissenschaftliche Belehrung und für die sogenannte Sittlichkeit teils von Haus aus, teils infolge zerstörender Einflüsse der Fall ist, da kann auch ein Lynkeus (81) dem trüben Auge nicht zu voller Sehkraft verhelfen. Kurz und gut: wer sich nicht innerlich mit der Sache verwandt fühlt, den kann auch Fassungskraft und Gedächtnisstärke hier nicht zum Ziele führen; denn bei widerstrebender Geistesrichtung schlägt die Philosophie in der Seele überhaupt nicht Wurzel. Wer also nicht innerlich verwachsen und verwandt ist mit dem Gerechten und sittlich Schönen überhaupt, mag auch der eine von ihnen für dieses, der andere für jenes Wissensgebiet mit leichter Fassungskraft und Gedächtnisstärke begabt sein, ja auch wer sich ihm verwandt fühlt, dabei aber der Fassungskraft und Gedächtnisstärke ermangelt, der wird, und zwar ohne Ausnahme, niemals den denkbär höchsten Grad der Erkenntnis von dem wahren Wesen der Tugend und des Lasters erreichen ; denn beide, Tugend und Laster, gehören für die Erkenntnis notwendig zusammen (82), wie denn für das ganze Seinsgebiet Irrtum und Wahrheit gleichzeitig und verbunden miteinander in unermüdlicher Anstrengung und mit reichlichem Zeitaufwand erkannt werden müssen, wie ich gleich zu Anfang bemerkte (83).

8.1.5.10. Der langwierige Prozess des Verstehens

Und erst wenn alles Einzelne, Namen, Begriffsbestimmungen, sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in mühsamer Arbeit nach ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander in einem trotz aller Widerlegungen stets versöhnlichen Tone erörtert und ohne alle Gereiztheit bei Fragen und Antworten (84) durchgeprüft ist -- erst dann lassen Einsicht und Vernunft ihr Licht erstrahlen über jeglichen Gegenstand, mit einer Kraft, die sich bis zur Grenze des für Menschen überhaupt Erreichbaren steigert. Daher ist denn jeder ernsthafte Mann weit entfernt, durch Veröffentlichung schriftlicher Auslassungen über hochernste Dinge diese der Streitsucht und den Zweifeln der Menschen preiszugeben. Kurz, es ergibt sich aus dem Gesagten folgende Lehre: wenn man auf schriftliche Auslassungen stößt, sei es von einem Gesetzgeber zur Erläuterung von Gesetzen (85) oder sonst auf Schriften irgend welcher Art, so war diese Schriftstellerei, wenn anders er selbst ein ernsthafter Mann ist, nicht sein voller Ernst... hat er das aber wirklich in vollem Ernst als Schriftwerk veröffentlicht, dann haben -- zwar nicht die Götter, wohl aber -- sterbliche Menschen ihn aller Besinnung beraubt (87).
BIB:PLATO-BRIEFE , Brief 7, p. 77

Plato vermittelt uns eine Sicht des Wissens "von Innen". Was aber der Meister als lebendiges Gebilde in seiner Seele nährt, kann nur Bruchstück- und Scheibchen- weise über das Medium der Sprache an seine Zuhörer übertragen werden. Die können dann nur versuchen, diese Bruchstücke in ihrer Seele wieder architektonisch zusammenzusetzen. Der Meister muß immer wachen und Feedback einholen, und prüfen, ob die Schüler das Wissen auch richtig wieder zusammensetzen. Wenn die Schüler aber ein Buch lesen, wenn sie keinen Meister haben, kann schon beim ersten Satz, bei der ersten Seite ein systematischer Fehler auftreten, der ihnen die Erkenntnis durch alle tausend oder zehntausend Seiten des folgenden Textes verbaut. Kant ist es offenbar gelungen, die Architektonik des Wissens und des Wißbaren zu rekonstruieren, und über Kant hinausreichend ist da noch das ungeheure Feld dessen, was wir nie werden wissen können, dessen Architektonik uns aber dennoch zugänglich ist.

8.1.6. Plato der Kreter
Wir müssen jetzt die große Frage des Leerstellendenkens stellen, die Frage, die uns allwöchentlich im "Wort zum Sonntag" präsentiert wird: Was sagt uns all dieses? Erklärt uns Plato hier mit freundlichen Worten, daß all die anderen Schriften, die er uns hinterlassen hat, diese tausende von Seiten, die hunderttausende von Worten, nichts als Schall und Rauch sind? Wir haben hier in etwas anderer Form, eben platonisch, das alte logische Rätsel: "Alle Kreter sind Lügner". Plato selber erzählt uns in aller Deutlichkeit, daß seinen Schriften nicht zu trauen ist. Dies ist ein Fall par Excellence für das Leerstellendenken. Wenn es sich im eine Frage des Wissens handelte, dann könnte man es mit den normalen aristotelischen Methoden abhandeln. Hier aber haben wir eine große, unübersehbare, nicht wegzudividierende, und wegzuinterpretierende systematische Leerstelle im Gedankengebäude des Plato. Wozu dienen aber dann all die Werke Platos? Plato hat sich ja diese große Mühe nicht nur aus Jux und Zeitvertreib gemacht. Er wollte etwas für seine Schüler hinterlassen, so daß diese, wenn sie den Schlüssel einmal hatten, den Zugang zu dem großen Palast der Mnemosyne erhalten konnten, den er erbaut hatte. Aber was ist aus dem Schlüssel geworden? Haben wir hier die berühmte aristotelische Kiste vor uns, in der wir stecken, und deren Anleitung zum Öffnen an der Außenseite steht?

8.1.7. Plato und die Metanoia
Vergleichen wir die Aussagen des siebten Briefs mit solchen, die wir von Buddha kennen, so fällt sofort der identische Ton auf. Auch Buddha betonte immer und immer wieder, daß das Wesentliche nicht aussagbar und nicht aufschreibbar sei. Deshalb wurde im Buddhismus die Lehre von der Shunyata geformt. Wir finden hier den Kernsatz, der darauf hinweist, daß Plato mit seinem System so etwas wie eine Einweihung verband, die aber nicht von außen gesteuert werden konnte, sondern spontan, von innen, erfolgen muß:

Dann... tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst.

Der griechische Begriff hierfür ist metanoia. Dieser Kernsatz weist übrigens direkt auf die Logoslehre des Heraklit und seinen Ausspruch: "Das Feuer ist vernunftbegabt", wobei wir hier mit "Vernunft" eben den transzendenten Aspekt zu sehen haben, den Plato oben andeutet. Die Autonomie des Prozesses: "es nährt sich von selbst" ist genau die Beobachtung, die die Menschen seit einer Million Jahren mit dem Feuer gemacht haben, und warum es für sie göttliche Natur hatte.

8.2. Immanuel Kant


Kant is the direct successor of Plato, through 2000 years of philosophical so-and-so comes a bright flash of insight that is re-kindling and illuminating this fire, of which Plato spake in the last paragraph.

Dann... tritt es plötzlich in der Seele hervor wie ein durch einen abspringenden Funken entzündetes Licht und nährt sich dann durch sich selbst.

8.2.1. Die Architektonik der Reinen Vernunft
@:ARCHITECTONICS
Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme. Weil die systematische Einheit dasjenige ist, was gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft, d.i. aus einem bloßen Aggregat derselben ein System macht, so ist Architektonik die Lehre des Scientifischen in unserer Erkenntnis überhaupt

Ich verstehe aber unter einem Systeme die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.
BIB:KANT-KRITIK , A832/B860

Eine systematische Einheit ist apriorisch. Sie ist eine Idee, also etwas, was der Vernunft entspringt. Diese Idee wirkt als Ordnungsfaktor und determiniert sowohl die Grenzen dessen, was als Mannigfaltiges auftritt, als auch seine innere Ordnung, also das Verhältnis der Teile des Mannigfaltigen untereinander. Das "Leerstellendenken" verwendet hier den Begriff "Strukturelles System" anstatt "systematische Einheit".

Die Einheit des Zwecks, worauf sich alle Teile und in der Idee desselben auch untereinander beziehen, macht, daß ein jeder Teil bei der Kenntnis der übrigen vermißt werden kann, und keine zufällige Hinzusetzung, oder unbestimmte Größe der Vollkommenheit, die nicht ihre a priori bestimmten Grenzen habe, stattfindet.
a.a.o., A833/B861

Dies ist eine etwas schwierige Formulierung, die den vorausgehenden Gedanken ergänzt. Die Struktur ist der Leitfaktor, und determiniert, ob und an welcher Stelle im Ganzen, irgendein Teil eingesetzt werden kann, und welcher Art dieses Teil ist. Umgekehrt, wenn irgendwo ein Teil fehlt, läßt es sich kraft der Kenntnis der Struktur eindeutig rekonstruieren. (Man beachte die Ähnlichkeit mit einem Hologramm.) An anderer Stelle führt er das weiter aus:

Übersehen wir unsere Verstandeserkenntnisse in ihrem ganzen Umfange, so finden wir, daß dasjenige, was Vernunft ganz eigentümlich darüber verfügt und zustande zu bringen sucht, das Systematische der Erkenntnis sei, d.i. der Zusammenhang derselben aus einem Prinzip. Diese Vernunfteinheit setzt jederzeit eine Idee voraus, nämlich die von der Form eines Ganzen der Erkenntnis, welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorhergeht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen. Diese Idee postuliert demnach vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis, wodurch diese nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes System wird... Dergleichen Vernunftbegriffe werden nicht aus der Natur geschöpft, vielmehr befragen wir die Natur nach diesen Ideen...
a.a.o., A645/B673

Weiter sagt er sinngemäß: Das Ganze ist gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio). Es kann innerlich, aber nicht äußerlich wachsen. Dies wird durch das Beispiel eines tierischen Körpers erläutert, der zwar im Laufe seiner Entwicklung gewisse Form- und Größenveränderungen erfährt, aber die Zahl der Beine, Ohren, Augen, etc. konstant hält.

Auch diese Begrifflichkeit bedarf der Erläuterung. Innerlich und äußerlich heißt hier nicht bezogen auf Innen und Außen eines Körpers, sondern bezogen auf Strukturmerkmale, die entweder immanent oder extern zur Struktur sind. Ein Tierkörper folgt in seiner Form einem bestimmten Strukturschema, das wir in der Wissenschaft z.b. als das Strukturschema der Wirbeltiere festgestellt haben. Diese Tierklasse hat immer einen Kopf, vier Extremitäten (Beine und Arme/Flügel, Flossen), und eine gemeinsame Knochenstruktur, die Wirbelsäule, an der alle anderen Teile auf eine wiederum strukturell recht festgelegte Weise befestigt sind. Wir arbeiten in der Zoologie mit diesem sehr bewährten Strukturschema, das sich durch 200 Jahre biologische Forschung gefestigt hat. Ein Wirbeltier kann sich im Laufe seines Lebens (von Unfällen abgesehen), nur dadurch verändern, daß seine Strukturbestandteile sich in der Größe und ein wenig in den Proportionen gegeneinander verändern. Es kann aber kein fünftes Bein wachsen. Es gibt keine Wirbeltier-Art mit fünf Beinen. Und umgekehrt, wenn wir einen dreibeinigen Hund sehen, dann können wir ihm zwar kein viertes Bein mehr wachsen lassen, aber wir wüßten genau, wie dieses vierte Bein aussehen würde, und wo es am Korper aufgehängt ist. (Man beachte hier auch die Bezüge zu der Theorie der Morphogenetischen Felder von Sheldrake.)

Die Idee bedarf zur Ausführung ein(es) Schema(s), d.i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte (abgeleitete) wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile. Das Schema, welches ... nur zufolge einer Idee entspringt ... gründet architektonische Einheit. Nicht technisch, wegen ... des zufälligen Gebrauchs der Erkenntnis in concreto zu allerlei beliebigen äußeren Zwecken, sondern architektonisch, um der ... Ableitung von einem einigen (einigenden, oder einzigen) obersten und inneren Zwecke, der das Ganze allererst möglich macht, kann dasjenige entspringen, was wir Wissenschaft nennen, dessen Schema den Umriß (monogramma) und die Einteilung des Ganzen in Glieder, der Idee gemäß, d.i. a priori enthalten... muß.
a.a.o. , bis A834/B862

Auch hier läßt sich sehen, daß die innere Idee, der oberste Zweck, das Leitprinzip der Architektonik ist. Im weiteren beschreibt Kant, wie die Entwicklung einer solchen Leitidee aussieht.

Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein, in der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar die Definition, die er gleich am Anfang von seiner Wissenschaft gibt, nur sehr selten seiner Idee;...

Meistens fängt man beim Erarbeiten irgendeines Wissensbereichs mit einer vagen Idee an, die aber noch in einem Wust von ungegliederten Daten verborgen ist. Und der, der als Wissenschaftler einer Idee nachgeht, kann manchmal sehr lange oder auch auf Lebenszeit von unfertigen Versionen der Kernidee beherrscht sein:

Um deswillen muß man Wissenschaften, weil sie doch alle aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesses ausgedacht werden, nicht nach der Beschreibung, die der Urheber derselben davon gibt, sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen. Denn da wird sich finden, daß der Urheber und oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren, die sie sich selbst nicht haben deutlich machen und daher den eigentlichen Inhalt, die Artikulation (systematische Einheit) und Grenzen der Wissenschaft nicht bestimmen können.
a.a.o., A834/B862 10-20

Wir haben hier eine Beschreibung von Zuständen, wie sie uns aus der Wissenschaft bestens bekannt sind. Kuhn beschreibt seine berühmten Paradigmenwechsel in einer ähnlichen Weise. So muß erst eine Forschergeneration in Pension gehen, damit eine jüngere Generation eine neuere und klarere Version formulieren kann. (BIB:KUHN62 )

Es ist schlimm, daß nur allererst (erst dann), nachdem wir lange Zeit, nach Anweisung einer in uns versteckt liegenden Idee... viele dahin sich beziehenden (darauf hinzielende) Erkenntnisse, als Bauzeug (Rohmaterial) gesammelt (und)... zusammengesetzt haben, es uns dann allererst (letztendlich) möglich ist, die Idee in hellerem Lichte zu erblicken, und ein Ganzes nach den Zwecken der Vernunft architektonisch zu entwerfen.
a.a.o., bis A835/B863

T.A. Edison meinte: "Genius is 10 percent inspiration and 90 percent perspiration." Wir müssen erst eine Menge Abraum bewegen, bevor wir das reine Gold der puren architektonischen Idee gewinnen können.

Wir begnügen uns hier mit der Vollendung unseres Geschäftes, nämlich, lediglich die Architektonik aller Erkenntnis aus reiner Vernunft zu entwerfen, und fangen nur (nun) von dem Punkte an, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft teilt und zwei Stämme auswirft, deren einer (die) Vernunft ist. Ich verstehe hier aber unter Vernunft das ganze obere (oberste, höchste) Erkenntnisvermögen, und setze also das Rationale dem Empirischen entgegen.
a.a.o., bis A836/B864

Alle Vernunfterkenntnis ist nun entweder die aus Begriffen, oder aus der Konstruktion der Begriffe; die erstere heißt philosophisch, die zweite mathematisch. Von dem inneren Unterschiede beider habe ich schon im ersten Hauptstücke gehandelt... Man kann also unter allen Vernunftwissenschaften (a priori) nur allein Mathematik, niemals aber Philosophie... sondern was die Vernunft betrifft, höchstens nur philosophieren lernen.
Das System aller philosophischen Erkenntnis ist nun Philosophie... Auf diese Weise ist Philosophie eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft, die nirgend in concreto gegeben ist, welcher man sich aber auf mancherlei Wegen zu nähern sucht...
Bis dahin ist aber der Begriff von Philosophie nur ein Schulbegriff... von einem System der Erkenntnis... Es gibt aber noch einen Weltbegriff (conceptus cosmicus), der dieser Benennung jederzeit zum Grunde gelegen hat... In dieser Absicht ist Philosophie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft ... und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft.
a.a.o., A837/B865 bis A839/B867


Kant hat damit für das Denken der Reinen Struktur einige wesentliche Fundierungen gegeben. Struktur ist ein Phänomen der Erkenntnis. Sie entwickelt sich nicht abhängig von Daten, sondern ist den Daten entgegengesetzt. Sie regiert die Anordnung von Daten und Fakten nach ihrem Muster. Kants Anleitung für das Denken der Reinen Struktur ist: Man muß seine Daten und Fakten "nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen." Auch wenn das allen anderen Lehrmeinungen und dem Expertenwissen widersprechen mag.


Die Vernunft bereitet also dem Verstande sein Feld,
1. durch ein Prinzip der Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen,
2. durch einen Grundsatz der Varietät des Gleichartigen unter niederen Arten;
und um die systematische Einheit zu vollenden, fügt sie
3. noch ein Gesetz der Affinität aller Begriffe hinzu, welchen einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet. Wir können sie die Prinzipien der Homogenität, der Spezifikation und der Kontinuität der Formen nennen. Das letztere entspringt dadurch, daß man die zwei ersteren vereinigt, nachdem man, sowohl im Aufsteigen zu höheren Gattungen, als im Herabsteigen zu niederen Arten, den systematischen Zusammenhang in der Idee vollendet hat; denn alsdann sind alle Mannigfaltigkeiten untereinander verwandt, weil sie insgesamt durch alle Grade der erweiterten Bestimmung von einer einzigen obersten Gattung abstammen.
a.a.o., A657/B685 bis A658/B686

8.2.2. The architectonic of pure reason
@:ARCHITECTONIC
By architectonic I understand the art of systems. Because systematic unity is what first raises common cognition from a mere aggregate to a science, architetonic is the doctrine of what is scientific [des Szientifischen] in our cognition generatim, and it necessarily belongs to the doctrine of method.

Under reason's government our cognitions are not permitted to be rhapsodic but must form a system, in which alone they can support and further reason's essential ends. By system I understand the unity of manifold cognitions under an idea. This idea is reason's concept of the form of a whole, so far as the extension of the manifold as well as the place of the parts in relation to one another is a priori determined by it. Reason's concept therefore of what makes a science contains the end and the form of the whole that is congruent with it. The unity of the end, to which all parts refer and, in its idea, also refer to each other enables us to ascertain the absence of any part by knowing the others and excludes any accidental addition or indetermiate measure of perfection. The whole is organized (articulatio) and not piled up (coacervatio); it can grow internally (per intus susceptionem) like an animal body but not externally (per appositionem).
BIB:KANT-KRITIK , A832/B860

Kant has given us quite a treasurehouse of ideas in his work. Besides the "What" we can gain immense wealth from the "How" of Kant. The architectonic principle is one of these intellectual jewels of the "How". It is the fine art of structuring a work and its subsections down to the finest details. This should be the high technical art of every scientific treatise. With modern outlining technology readily and cheaply available, no scientific work should be admitted to standards that doesn't display these features.

8.3. Parmenides: Vom Wesen des Seienden

@:PARMENIDES_SEIN
B1
Die Pferde, die mich fahren so weit nur der Wille dringt,
zogen voran, da sie mich auf der Göttin vielkündenden Weg
gebracht hatten, der den wissenden Mann durch alle Städte führt.
Auf diesem Weg fuhr ich; denn dort fuhren mich die kundigen Pferde
den Wagen fortreißend; und Mädchen lenkten die Fahrt.
Die Achse in den Naben gab einen hellen Pfeifton,
glühend; so ward sie getrieben von zwei wirbelnden
Rädern zu beiden Seiten, wenn schleuniger sich beeilten
die Sonnentöchter, mich voranzufahren,
hinter sich lassend das Haus der Nacht,
dem Lichte zu, stoßend vom Kopf mit der Hand den Schleier.

Dort ist das Tor der Wege von Nacht und Tag,
und ein Türsturz umschließt es und steinerne Schwelle.
Das Tor selbst, aus Ätherlicht, ist ausgefüllt von großen Türflügeln.
Zu diesem Tor aber hat Dike, die vergeltende,
die ein- und auslassenden Schlüssel.
Ihr nun sprachen die Mädchen zu mit sanften Worten
und beredeten sie klug, daß sie ihnen den mit Bolzen versehenen Riegel
geschwind vom Tor zurückschöbe. Das aber flog auf und
machte weit den Schlund der Türflügel, indem es die erz-beschlagenen
Pfosten, mit Zapfen und Dornen eingefügt, nacheinander
in den Pfannen drehte. Dort also mitten hindurch
gerade dem Wege nach lenkten die Mädchen Wagen und Pferde.

Und freundlich empfing mich die Göttin, ergriff meine
Rechte, redete mich an und sagte das Folgende:
Jüngling, Gefährte unsterblicher Lenkerinnen,
der du mit den Pferden, die dich fahren,
zu unserem Haus gelangt bist,
Heil dir! Denn kein schlechtes Geschick sandte dich
auf diesen Weg - er liegt wahrlich abseits vom Wandel der Menschen -
sondern die Mächte des Angemessenen und Notwendigen.
Du aber sollst alles erfahren,
sowohl der überzeugenden Evidenz unerschütterliches Herz
wie auch die Eindrücke der Menschen, die ohne evidenten Beweis sind;
aber gleichwohl wirst du auch das hören, wie das Geltende
notwendigerweise gültig sein mußte durch alle Zeit hin insgesamt...

Es ist für mich das Gleiche,
von wo ich anfange; denn dahin kehre ich wieder.

B2
Ich werde also vortragen - du aber nimm dich der Rede an, die du hörst -
welche Wege des Untersuchens allein zu erkennen sind.

Der eine, (der da lautet) "es ist, und Sein ist notwendig",
ist der Weg der Überzeugung; denn sie folgt der Evidenz.
Der andere, (der da lautet) "es ist nicht, und Nicht-Sein ist notwendig",
der ist, wie ich dir zeige, ein völlig unerfahrbarer Weg;
denn das Nicht-Seinende kannst du weder erkennen -
denn das läßt sich nicht verwirklichen -
noch aufzeigen. ...

B3
Denn dasselbe ist Erkennen und Sein.
B6
Richtig ist, das zu sagen und zu denken, daß Seiendes ist;
denn das kann sein;
Nichts ist nicht: Das heiße ich dich bedenken.
Denn zuerst halte dich von dem Weg des Suchens fern ...

B7+8
Denn niemals kann das erzwungen werden, daß Nichtseiendes ist.
Sondern von diesem Wege des Suchens halte du den Gedanken fern,
und nicht soll dich die vielerfahrene Gewohnheit auf diesen Weg drängen,
anzuwenden das unachtsame Auge, das dröhnende Gehör
und das Sprechen, sondern argumentierend entscheide
die streitbare Beweisführung,
die von mir vorgetragen ist. Allein also noch übrig bleibt
die Beschreibung des Weges
"es ist". Und auf ihm gibt es sehr viele Zeichen,
sofern Seiendes ungeworfen und ohne Vernichtung ist,
ganz, einzig, ohne Schwanken und in sich vollendet.

Und nicht war es einmal, auch wird es nicht sein,
da es zugleich ganz ist,
eines, zusammenhängend.
Denn welches Herkommen könntest du für es suchen?

Wie und woher gewachsen? Weder "aus Nichtseiendem" werde ich dich
sagen und (erkennend) denken lassen; denn weder sagbar noch erkennbar
ist Nichtseiendes. Und welche Notwendigkeit hätte es auch veranlaßt
später oder früher aus dem Nichts beginnend zu entstehen?

So ist es notwendig, entweder ganz und gar zu sein oder nicht.
Noch auch wird die Kraft des Beweises jemals zulassen,
daß aus Nichtseiendem
etwas neben ihm entsteht. Insofern hat weder zum Werden
noch zum Vergehen Dike es in seinen Fesseln lockernd losgelassen,
sondern sie hält es fest. Die Entscheidung hierüber aber
liegt in der Alternative:

Es ist oder es ist nicht.

Und entschieden ist nun notwendigerweise,
die eine Seite der Alternative unerkennbar und unsagbar
zu lassen, denn sie ist nicht evident;
die andere Seite aber als seiend und wirklich hinzunehmen.

Wie aber könnte dann Seiendes... ? Wie könnte es werden?
Wenn es nämlich wurde, ist es nicht; auch nicht wenn es einmal sein wird.
So ist Werden ausgelöscht und unbekannt Verderben.

Auch ist es nicht unterteilt, da es in seiner Gesamtheit gleichmäßig ist:
und keineswegs ist es irgendwo mehr - was seinen Zusammenhang hindern könnte -
noch etwa weniger, sondern ganz ist es voll von Seiendem.

Demnach ist es ganz zusammenhängend; denn Seiendes stößt an Seiendes.
Und unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln
ist es ohne Anfang, ohne Ende, da Werden und Verderben
in weiteste Ferne verschlagen sind; verstoßen hat sie der evidente Beweis.
Als dasselbe und in demselben verharrend ruht es für sich
und verharrt so fest auf der Stelle. Denn ein mächtiger Zwang
hält es in den Fesseln der Grenze, die es rings umschließt,
weil das Seiende nicht unvollendet sein darf:

Denn es ist ohne Mangel; andernfalls wäre es nicht ganz...
Dasselbe aber ist Erkennen und das, woraufhin Erkenntnis ist.
Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es ausgesprochen ist,
wirst du das Erkennen finden. Denn nichts anderes ist oder wird sein
außer dem Seienden, weil Moira es gebunden hat.

Auszüge und Stellen aus: BIB:PARMENIDES74 und BIB:PARMENIDES69

8.4. Die Logik der Lehre von der Leere: Die Shunyata des Nagarjuna

@:SHUNYATA
8.4.1. Einleitung
Die folgende Untersuchung ist Teil eines größeren Projekts, das ich "Das Leerstellendenken" oder Kenomén nenne (Siehe auch: ->: KENOMEN ). Das Kenomén ist eine Denk- und Erkenntnismethode, die bestimmte Begrenzungen des westlichen Denksystems überwinden helfen soll. Sie gründet sich auf das sokratische "Ich weiß, daß ich nicht weiß", auf Arbeiten von Cusanus in "Docta Ignorantia " und wesentlich auf die Shunyata -Lehre des Nagarjuna . Dieser Aspekt soll im Folgenden weiter behandelt werden.

8.4.2. Der Begriff des Kenomén
Kenomén wird mit der Betonung auf der letzten Silbe ausgesprochen. Daher der Akzent. Das griechische wort keno bedeutet dasselbe wie shunya in Sanskrit: Die Leere. Das Wort men hat eine sehr reichhaltige Bedeutung:

Menin aeide Thea -- Singe mir vom Zorn, O Göttin!

Menis -- dieses Wort ist das Anfangswort unserer abendländischen Kultur, die obige Stelle stammt aus dem Anfang der Ilias , des ersten Gesangs der ersten großen abendländischen Äußerung (BIB:GEBSER73 , p.127). Menis ist das Grundelement, der Archetyp des westlichen, abendländischen Menschen.

Der Leser wird nun bei der Bezeichnung "mental " sogleich den Begriff "Mentalität " assoziieren, und zwar der deutschsprachige Leser in einer ausschließlicheren Weise als zum Beispiel der englische, französische, italienische oder spanische Leser, für den das Wort "mental" ja noch einen lebendigen Inhalt besitzt. Durch eine so einseitige Assoziation wird der Sinngehalt, den das Wort "mental" birgt, auf eine unzulängliche Weise eingeschränkt, weil das Wort "Mentalität" mehr als nur die moralische Komponente einer Gesinnung und Einstellung zum Ausdruck bringt; dabei haben aber ihrerseits die beiden Begriffe "Gesinnung" und "Einstellung" bereits durchaus perspektivischen Charakter.

Wir wählen diese Bezeichnung "mental" aus zweierlei Gründen zur Kennzeichnung unserer heute noch vorherrschenden Bewußtseinsstruktur. Erstens enthält das Wort in seiner ursprünglichen Wurzel, die im Sanskrit "ma" lautet, aus welcher sekundäre Wurzeln wie "man-" , "mat-", "me-" und "men-" hervorgingen, nicht nur eine außerordentliche Fülle von Bezügen, sondern vor allem drücken die mit dieser Wurzel gebildeten Wörter sämtlich entscheidende Charakteristika der mentalen Struktur aus. Zweitens ist dieses Wort das Anfangswort unserer abendländischen Kultur, denn es ist das erste Wort der ersten Zeile des ersten Gesanges der ersten großen abendländischen Äußerung: dieses Wort, "mental" ist in dem menin (dem Akkusativ von: Menis) enthalten, mit dem die "Ilias" beginnt.

Das griechische Wort menis, das "Zorn" und "Mut" bedeutet, ist stammverwandt mit dem Wort menos, das "Vorsatz, Zorn, Mut, Kraft" bedeutet und mit dem lateinischen "mens" urverwandt ist, das ungemein komplexe Bedeutung hat: "Absicht, Zorn, Mut, Denken, Gedanke, Verstand, Besinnung, Sinnesart, Denkart, Vorstellung". Mit diesen Inhalten ist bereits das Grundlegende gegeben: es handelt sich um das ansatzmäßige In-Erscheinung-Treten des gerichteten Denkens. War das mythische Denken, soweit man es als ein "Denken" bezeichnen darf, ein imaginierendes Bilder-Entwerfen, das sich in der Eingeschlossenheit des die Polarität umfassenden Kreises abspielte, so handelt es sich bei dem gerichteten Denken um ein grundsätzlich andersgeartetes: es ist nicht mehr polarbezogen, in die Polarität, diese spiegelnd, eingeschlossen und gewinnt aus ihr seine Kraft, sondern es ist objektbezogen und damit auf die Dualität, diese herstellend, gerichtet, und erhält seine Kraft aus dem einzelnen Ich.

Dieser Vorgang ist ein außerordentliches Geschehen, das buchstäblich die Welt erschütterte. Mit diesem Ereignis wird der bewahrende Kreis der Seele, die Eingeordnetheit des Menschen in die seelische, natur- und kosmisch-zeithafte polare Welt des Umschlossenseins gesprengt: der Ring zerreißt, der Mensch tritt aus der Fläche hinaus in den Raum; ihn wird er mit seinem Denken zu bewältigen versuchen. Etwas bisher Unerhörtes ist geschehen, etwas, das die Welt grundlegend verändert. Der Mythos von der Geburt der Athene malt es in Bildern und Bezügen, die eine deutliche Sprache sprechen: Zeus vermählt sich mit der Metis, die als Personifikation der Vernunft und der Intelligenz aufgefaßt wird, und als eine der Töchter des weltumschließenden Okeanos (-Stromes) die Gabe der Verwandlung besitzt (107). Zeus jedoch verschlingt Metis, weil er die Geburt eines Sohnes befürchtet, der mächtiger werden könnte als er, so daß Metis, schon mit der Tochter schwanger, in seinen Leib versetzt wird. Diese Tochter Athene wird aus dem Haupte des Zeus geboren, wobei ihm Hephästos oder Prometheus oder Hermes mit einem Beile das Haupt spalten. Pindar beschreibt diese durch den Beilschlag ausgelöste Geburt, die unter furchtbarem Aufruhr der ganzen Natur und unter dem Staunen aller Götter erfolgte. Das Meer (die große, umfassende Seele) wallt hoch empor; der Olymp und die Erde (die bislang polar einander zugeordnet waren) erbeben (und das sorgsam beobachtete Gleichgewicht ist gestört) ; ja selbst Helios unterbricht seinen Lauf (der Kreis ist tatsächlich unterbrochen worden, und aus der Lücke, der Wunde, tritt eine neue Weltmöglichkeit hinaus).
(BIB:GEBSER73 , 126-129)

Dem entscheidenden Bewußtseinssprung in der griechischen Welt steht um 1225 v. Chr. ein Beispiel gegenüber, in einer Kultur, die ebenfalls für die unserige konstituierend geworden ist, und in dem das zürnende Element eine bedeutende Rolle spielt: der zürnende Moses , der mit der Schuld des Tötens behaftet ist, ist der Erwecker des Volkes Israel , dem er folgerichtig den strafenden, einzigen Gott gegenüberstellt. Das ist die Geburt des Monotheismus : die Gegengeburt zu dem im Menschen erwachten Ich. Und damit ist es die Geburt des Dualismus : hier Mensch, dort Gott, die sich dualistisch gegenüberstehen und sich nicht mehr polar entsprechen oder ergänzen; denn der einzelne Mensch ist nicht der Gegenpol zu Gott; wäre er es, bedürfte es nicht des Mittlers. Hier entsteht bereits die Trinität , welche die dreidimensionale mentale Struktur mitcharakterisiert. Wir deckten den Bezug auf, der zwischen dem Denken und dem Zorn, zwischen dem griechischen "Menos ", dem lateinischen "mens " und der griechischen "Menis" besteht. Der Zorn, nicht als blinder, sondern als denkender Zorn, gibt dem Denken und der Handlung Richtung; und er ist rücksichtslos, das will besagen: er sieht nicht nach rückwärts, er wendet den Menschen fort von der bisherigen mythischen Welt der Eingeschlossenheit und ist vorwärtsgerichtet, wie die zielende Lanze, wie der in den Kampf stürzende Achill . Er einzelt den Menschen von der bis anhin gültigen Welt - der Ton liegt auf Mensch - und ermöglicht sein Ich. Diese Betonung des Wortes Mensch ist durchaus nicht zufällig. Denn ob "mens" , "Menis" oder "Mensch" - sie sind aus der gleichen Wurzel.

Gehen wir diesen Zusammenhängen nach (109), so ergibt sich die folgende Grundbezüglichkeit, in der die mentale Struktur gründet: aus der Wurzel "ma", die "Denken" und "Messen" bedeutet, gehen die Sekundär-Wurzeln "man", "mat", "me" und "men" hervor. Der Wurzel "man-" entspringt das altindische (Sanskrit -)Wort "manas ", das "innerer Sinn, Geist, Seele, Verstand, Mut, Zorn" bedeutet; und ihr entspringt das Wort "manu", das im Sanskrit den "Menschen, Denker und Messenden" bezeichnet; auf dieses Wort gehen ferner zurück (um nur einige zu nennen): das lateinische "humanus", das englische "man", das deutsche "Mann ", aus dessen Adjektivform "männisch" das Wort "Mensch " entstand.

Sehen wir davon ab, daß selbst das lateinische "humus", das "Erde" bedeutet, hierher gehört (110), so muß doch betont werden, daß außer dem Namen des indischen Gesetzgebers "Manu " auch der des kretischen Königs "Minos " und der des ersten "geschichtlichen" Königs Ägyptens, "Menes ", auf diese Wurzel "man " zurückgehen dürften. Jedenfalls kann es als erwiesen gelten, daß "Minos" geradezu der "Wäger" beziehungsweise der "Messer" (der Wägende oder Messende) bedeutete (111), womit auch inhaltlich seine Verwandtschaft mit dem indischen "Manu" gegeben ist. Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man in dem fast gleichzeitigen Auftauchen dieser drei legendären Gestalten, die ein menschheitliches Mutationsprinzip verkörpern, einen Hinweis auf eine erste Sichtbarwerdung der mentalen Bewußtseinsstruktur erkennen wollte: denn wo der Gesetzgeber in Erscheinung tritt und nötig wird, da ist das alte Gleichgewicht (das ein polar-mythisches war) gestört, und es beginnt jenes Setzen und Fixieren, das es wiederherstellen soll. Nur die mentale Welt bedarf des Gesetzes, die in der Polarität geborgene mythische Welt bedarf seiner nicht und kennt es nicht. Im frühgriechischen Kulturkreis dürfte dieses mentale Prinzip nicht nur in den Namen "Menerfa, Metis, Hermes und Prometheus" aufleuchten; vielleicht enthält auch der Name des Königs von Mykene, Agamemnon, sicher wohl aber der des Königs von Sparta, Menelaos, dieses mentale Prinzip, da alle diese Namen die Wurzel "ma: me" beziehungsweise deren Sekundärwurzel enthalten. Auch mag es nicht zufällig sein, daß um des Menelaos' Gemahlin Helena, welche die Schwester der Klytaimnestra und die Schwägerin des Agamemnon war, jener Trojanische Krieg entbrannte, der den Sieg des Vaterprinzips über das Mutterprinzip darstellen dürfte (s. S. 223 42 u. 43).

Gehen wir jedoch den anderen Sekundärwurzeln nach. Als zweite haben wir die Wurzel "mat" genannt. Aus ihr entspringen die Sanskritwörter "matar" und "matram": "matar" wird zum griechischen mates und metes (mater und meter gleich "Große Mutter"); aus ihm bildet sich unter anderen unser Wort "Materie"; "matram", das ein "Musikinstrument" bedeutet, kehrt in diesem Sinne im griechischen metson (metron) wieder; aus ihm bildet sich unser Wort "Meter".

Schon hier sei darauf hingewiesen, was uns später (s. S. 301 u. 333) ausführlicher beschäftigen wird: daß die ursprüngliche Wurzel "ma: me" latent und komplementär auch das weibliche Prinzip enthält. Denn das griechische Wort für "Mond", men (men), geht auf diese Wurzel zurück. Und die Sekundärwurzel "mat" erlebt ja in der heutigen patriarchalen Welt ihre Glorifizierung, die sich in dem Beherrschtsein des rationalen Menschen durch die "Materie" und den "Materialismus" zu erkennen gibt (112). War der Mond für den frühen Menschen der zeitliche Maßstab, so ist die Materie für den heutigen Menschen der räumliche Maßstab.

Schließlich gehen aus den Wurzeln "me-" beziehungsweise "men-" nicht nur die zahlreichen griechischen Verben (113) hervor, die alle in mehr oder minder starker Form einerseits: "zürnen, grollen", andererseits "verlangen, begehren, trachten, streben, im Sinne haben und ersinnen" bedeuten, wobei die Tatsache betont werden muß, daß sie ein gegen jemanden gerichtetes Trachten, Streben und Ersinnen zum Ausdruck bringen. Und auf diese Wurzel geht durch alle germanischen Sprachen hindurch über das griechische medomai (medomai), das "an etwas, auf etwas denken" (also ein durchaus gerichtetes Denken) bedeutet, unser "ermessen" zurück, das sowohl "messen" wie "erwägen" und "bedenken" ausdrückt. Sie bildetete das englische Wort "mind", aber auch das lateinische "mentiri ", das "lügen" bedeutet (!). Und es sei noch erwähnt, daß sie das griechische Fragewort ti in der Wendung ti men (ti men) - "Warum ?" als verstärkendes Element begleitet und so die Frage mitformt, die am Anfang aller Wissenschaften steht, zu deren Schutzgöttinnen sowohl Athene wie Minerva erhoben wurden (114). Die Wurzel, die dem Worte "mental" zugrunde liegt, enthält keimhaft eine ganze Welt, die in der mentalen Strukturierung Gestalt, Form und Wirkcharakter annimmt.
BIB:GEBSER73 , 129-131

8.4.2.1. Das Ende der europäischen Bewußseinsgeschichte

Die große geistige Tradition des Westens besteht im "Wissen des Wißbaren", auch "Wissenschaft" genannt. Die Grundlagen hierfür wurden vor 2500 Jahren in einem uns erhaltenen Zeugnis des Parmenides formuliert. Das eindrucksvolle Lehrgedicht des Parmenides: "Vom Wesen des Seienden" soll im Anmerkungsteil auszugsweise wiedergegeben werden: (ANM:PARMENIDES ) Wir stehen heute in einer Situation, in der die Probleme einer vom maßlosen technologisch/kapitalistischen Wachstum bedrohten Welt-Ökologie einerseits, und der völligen Entseelung der westlichen Gesellschaften andererseits zeigen, daß der Westen die "Grenzen des Wachstums" seiner innersten und fundamentalen Grundlagen, der Seele seiner Kultur, erreicht hat. Mit dem Kenomén soll eine Refokussierung auf die Grundlagen des Wißbaren und vor allem des Nicht-Wißbaren gemacht werden. (ANM:WIßBAR [117] ) Die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, und damit letztlich auch die Korrektheit jedes Wissens kann nur durch ein Sichtbarmachen seiner Leerstellen versichert werden, ansonsten verfällt man zu leicht der beabsichtigten oder unbeabsichtigten Selbsttäuschung, das was wir wissen, für das Wißbare zu halten. Man kann sagen, daß das Projekt des Kenomén darauf hin zielt, neue Denkformen zu finden, und damit einen neuen Ansatzpunkt der Kultur, die aus dem Ende der europäischen Tradition entstehen könnte. Ein geeignetes Motto bietet uns ein Zitat von Gotthard Günther:

Die Bewußtseinsgeschichte des Abendlandes und der weltgeschichtlichen Epoche, der Europa angehört, ist zu Ende. Das zweiwertige Denken hat alle seine inneren Möglichkeiten erschöpft, und dort wo sich bereits neue spirituelle Grundstellungen zu entwickeln beginnen, werden sie gewaltsam in dem alten längst zu eng gewordenen klassischen Schema interpretiert. Man kann eben eine alte Logik nicht ablegen wie ein fadenscheinig gewordenes Kleid. Der Übergang von der klassisch-Aristotelischen Gestalt des Denkens zu einer neuen und umfassenderen theoretischen Bewußtseinslage erfordert eine seelische Metamorphose des gesamten Menschen. Einer nicht-Aristotelischen Logik muß ein trans-Aristotelischer Menschentypus entsprechen und dem letzteren wieder eine neue Dimension menschlicher Geschichte.
BIB:GÜN-IDEE , p. 114

8.4.2.2. Die Entstehung des trans-aristotelischen Menschentypus

Hiermit ist das Wesen des Unterfangens gegeben. Es handelt sich nicht allein um eine logische oder theoretische Unternehmung, sondern etwas, das den Menschen, die Menschheit und das Universum als Ganzes begreift. Dies ist exakt in dem Sinne, wie Buddha und Nagarjuna auch ihre Lehre von der Leere verstanden wissen wollten. Es geht um die Entstehung des trans-aristotelischen Menschentypus, wie Günther es nennt.

8.4.2.3. Die Problematik der Untersuchung des Madhyamika

In der vorliegenden Arbeit geht es darum, die Shunyata-Logik des Buddhismus anhand der Methode Nagarjunas zu untersuchen, mit westlichen Denkansätzen zu vergleichen, und nach Möglichkeit mit der heutigen Situation zu verbinden. Eine tiefgehende Untersuchung der Kernkonzepte des Madhyamika Buddhismus ist kein leichtes Unterfangen: Erstens handelt es sich hier um ein System, das als geistiger Antipode unseres westlichen Denksystems betrachtet werden kann. D.h. wenn wir versuchen, das Thema mit unserer gewohnten westlichen Methodik und Denkweise anzugehen, laufen wir Gefahr, uns sofort in den Denkschemata unserer Methode verfangen, und das Wesentliche dieses Ansatzes verlieren. Zweitens ist das, was uns heute an Zeugnissen von Nagarjunas System überkommen ist, in eine Sprache gefaßt, deren richtige Interpretation schon das Funktionieren dieses Denksystems voraussetzt (BIB:BUDDH-STRENG, p.43). Um Nagarjuna zu verstehen, muß man von der Position des Nirvana aus denken können.

8.4.2.4. Die Besonderheit der Sprachstrukturen

Bei der mohammedanischen Eroberung Indiens wurde der indische Buddhismus ausgelöscht. Nagarjunas Madhyamika war eine seiner charakteristischen Formen. Nagarjuna verband die überragende, von keiner Menschheitskultur mehr erreichte, geistige Kraft des vedisch/brahmanischen Denkens mit den Kernprinzipien des Buddhismus. Andere heute existierende Formen des Buddhismus haben wesentliche strukturelle und inhaltliche Unterschiede, die vor allem in der anderen Denk- und Sprachstruktur ihrer Exponenten begründet ist. Die Madhyamika-Denkweise Nagarjunas ist auf die indogermanische Sprachstruktur des Sanskrit gegründet, und die anderen Formen des Mahayana-Buddhismus, also sowohl der tibetische, als auch der chinesisch/japanische Chan/Zen Buddhismus haben als sprachliche Grundlage die völlig andere Sprachstruktur der mongolisch/altaischen Sprachfamilien. Zwar liegt auch der ceylonesische (Pali-) Hinayana/Theravada-Buddhismus in der indogermanischen Sprachfamilie, aber in dem, was Nagarjuna im Madhyamika ausdrücken will, unterscheidet er sich eben grundlegend vom Hinayana. Nagarjuna richtet sich explizit gegen den Scholastizismus der Abidharma-Lehre, ein Problem, das allen indogermanischen Denksystemen gemein ist. Dieses psycho-linguistische Thema ist in dem Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ausführlich zu behandeln, vor allem nicht die sich anschließende Frage, ob und inwieweit andere Sprachfamilien dieser Gefahr nicht in dem Maße unterliegen. Der Punkt muß daher als Leerstelle im weiteren Denken zumindest mitgeführt werden.

8.4.2.5. Die Problematik der Übertragung auf moderne Denkweisen

Und letztlich, auch wenn wir die Inhalte rekreieren könnten, so würde uns das, was Nagarjuna im 7. Jh. n.B. (ANM:ZEIT [118]) für seine Mitmönchsbrüder und die brahmanische Elite seiner Zeit gesagt hat, in unserer, durch 2500 Jahre von westlicher Philosophie geprägten Denk- und Seinsweise vielleicht nicht so viel nützen. Wir müssen auch versuchen, Nagarjuna so verstehen, als wenn er in moderner Sprache einen modernen Gedanken ausspricht. Der Buddha hat selber vorausgesehen, daß der Inhalt seiner Lehre (bzw. seiner Leere) in der letzten Epoche, den letzten 500 Jahren, verlorengehen würde. Dies aber ist unsere heutige Zeit, die fünfte Epoche nach Erscheinen des Buddha. Er wußte, daß selbst diejenigen, die in treuem und frommen Glauben an der Überlieferung haften, fehlgehen würden, weil der Buddhismus, wie alle anderen Religionen, ein -ismus werden würde, der den bekannten Gesetzen alles irdischen unterworfen ist, so etwa in der Verkrustung in Form einer Kirche, mit Mönchen, die sich auf eine symbiotischen Koexistenz mit einer Gesellschaft eingerichtet haben, von deren Almosen sie leben, und die den Laien dafür gewisse Rituale anbieten, mit denen sie sich Absolution, oder Verdienste, in irgendeiner Form erwerben können. Wir wollen hierzu eine Stelle aus dem Diamant Sutra zitieren:

Subhuti fragte: Wird es da irgendwelche Wesen geben, in der zukünftigen Periode, in der Endzeit, in der letzten Epoche, in den letzten 500 Jahren, zu der Zeit des Zusammenbruchs der guten Lehre, die, wenn diese Worte des Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen werden?

Der Erleuchtete antwortete: Spreche nicht so, Subhuti! Ja, sogar dann wird es Wesen geben, die, wenn diese Worte des Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen werden. Denn sogar zu dieser Zeit wird es Bodhisattvas geben, die gesegnet sind mit der guten Lebensweise, die gesegnet sind mit den hohen Qualitäten, die gesegnet sind mit der Weisheit, und die, wenn diese Worte des Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen werden.

BIB:BUDDH-CONZE58 , p. 50
8.4.3. Die Wendezeit der Weltkulturen
Nach der Lehre des Buddha und Nagarjunas sind alle Wesen des Universums untrennbar miteinander verbunden, nichts geschieht ohne Auswirkung an allen anderen Dingen und Orten. Daher betrachten wir auch die Entwicklung der Menschheit als Eines. Was im Westen passiert, ist nicht unbeeinflußt vom Osten und umgekehrt. Wir fokussieren zuerst unseren Blick auf die Welt der Entstehung des Buddhismus.

Die Zeit zwischen -700 und -300 ist ein geschichtlicher Augenblick höchster Intensität, eine echte Wendezeit: Anscheinend sind in diesem geschichtlichen Fenster von ca. 300 Jahren die wesentlichen geistigen Weichenstellungen gemacht wurden, die die Geschicke des Planeten bis heute in Atem halten. (ANM:DATIERUNG [119], ANM:EPOCHE [120]) Nach einigen Historikern und Philosophen wurde sie auch Achsenzeit genannt. In dieser Zeit liegt das persische Großreich der Achämeniden (-559 bis -330), welches das erste Mal in der Weltgeschichte die Kulturen des fernen Asiens, des Zweistromlandes, Ägyptens, und Europas in Verbindung brachte. In dieser Zeit differenzieren sich die uns interessierenden Hauptlinien des philosophischen Denkens der Menschheit:

1) Das Erwachen des griechischen und abendländischen Denkens, das Auftreten der ersten griechischen Naturphilosophen: Pythagoras , Thales , Anaximander , Parmenides und Heraklit . Kurz danach die berühmten Philosophen der Athener Schule: Sokrates, Plato, und Aristoteles.

2) In Indien Siddharta Gautama Shakyamuni Buddha , und gleichzeitig mit ihm und praktisch am selben Ort ein anderer, weniger bekannter, in Indien aber mindestens genauso verehrter Heiliger: Mahavira , der 24. Tirthankara der Jaina -Religion.

3) In China lebten zu dieser Zeit Lao Tsu und Kung Fu Tse oder Konfuzius .

4) Und in Persien lehrte Zoroaster oder Zarathustra seine Lehre vom Absoluten Dualismus zwischen dem Gott des Lichts Ahura Mazda und dem Herrn der Finsternis Ahriman . Dieser Dualismus ist die Grundlage der Logik des Aristoteles , des "Tertium non Datur " und damit der gesamten heutigen Wissenschaft. (s.a. BIB:GEBSER73 , 126)

Der signifikante Unterschied zwischen der Philosophie des Westens und den östlichen Systemen des Buddhismus und des Taoismus ist dieser: Der Westen entwickelte sich von Parmenides über Plato und Aristoteles in ein System der Substanz (der ousia, oder des Seienden) und der Osten entwickelte die Systeme der Leere: Die Shunyata und das Tao. Es war fast wie eine globale Verabredung, daß sich just in diesem Zeitabschnitt an so verschiedenen Orten des Globus Denker fanden, die eine derartig diametrale Fundamentierung des Denkens der Menschheit aufstellten.

8.4.3.1. Das gesellschaftliche Umfeld zur Zeit des Buddha

Der "Mittlere Weg", den der Buddha lehrte, muß vor dem soziopolitischen Hintergrund der indischen Gesellschaft seiner Zeit gesehen werden. Dazu eine kurze Rekapitulation der Geschichte.

8.4.3.2. Die erste Eroberung Indiens durch die Arier

Zwischen -3000 und -1500 drangen die arischen Eroberer in Indien ein und zerstörten die ur-indische drawidische Zivilisation, die uns hauptsächlich durch die Stadtstaaten Mohenjo Daro und Harappa bekannt ist. Diese Zivilisationen waren auf einer höheren Entwicklungsstufe gewesen, als die der arischen Eroberer. Sie unterhielten rege Handelsbeziehungen zu Sumerien, und besaßen eine Schrift. Die Städte wurden vernichtet, die Bevölkerung unterjocht, und alle kulturellen Zeugnisse der alten Zivilisation vernichtet. (ANM:SCHRIFT [121]) Das Kern-Epos der indo-arischen Kultur, der Rig Veda, entstand um diese Zeit. Sein Inhalt ist sehr vielschichtig, und auf einer Ebene werden die Ereignisse der Eroberung beschrieben, so die "Heldentaten" der Arier und ihres kulturellen Leitheros Indra.

8.4.3.3. Die Entstehung des indischen Kastensystems

In der Folge installierten die arischen Eroberer ihr bekanntes Kastensystem, das wohl perfekteste Herrenmenschen/Untermenschen-Herrschaftssystem der Weltgeschichte. Es überdauerte alle Stürme der Zeit und besteht bis zum heutigen Tage. Die höchsten Kasten der Brahmanen und Kshatrias rekrutierten sich aus den Eroberern, während die drawidischen Ureinwohner durch dieses System über Jahrtausende in einer Diener- und Sklavenrolle fixiert worden waren. Im Vergleich zu den Sklavensystemen der europäisch/orientalischen Antike fällt die ideologische Durchstilisierung auf, die den Unterdrückten über die Karma-Doktrin ihre Lage auch noch logisch erklärbar machte. Es war also wesentlich weniger externer Druck und Gewaltanwendung nötig, als in den europäisch/orientalischen Sklavensystemen, um die Untermenschen bei der Stange zu halten. Die römische Antike war ja öfter von Sklavenaufständen erschüttert worden, und man mußte die Gesellschaft immer auf einem hohen Grad der Militarisierung halten, um die Sklaven von der Rebellion abzuschrecken. Dies war in dem indischen System nicht nötig, und so war es wesentlich stabiler, und überlebte folglich einige tausend Jahre länger als die europäisch/orientalischen Sklavenhaltersysteme.

8.4.3.4. Die brahmanische Opferreligion der Arier

Die brahmanische Religion der Arier, die auf den Veden beruhte, hatte sich bis zur Zeit Buddhas in ein barockes System von komplizierten Opfer-Ritualen ausgeformt, das nur von den Brahmanen in jahrelangem Training erlernt und ausgeführt werden konnte. Das Entwicklungsmuster solcher ritualistischer Systeme ist immer dasselbe und läßt sich in allen Priester-Kulturen ähnlich beobachten: Die Priester leben von den Opfern der Gläubigen, für die sie die Rituale ausführen. Um einer sich vermehrenden und sich spezialisierenden Priesterschaft ein entsprechend größeres Umsatzvolumen zu ermöglichen, müssen notwendigerweise die Rituale immer komplizierter und undurchschaubarer werden. Analoges läßt sich auch bei den modernen Gesellschaften heute beobachten, in denen die Spezialisierung der Ärzte, Rechtsanwälte, und Wissenschaftler und die Vermehrung der Staatsdiener immer zunimmt, bis sie das gesellschaftlich tragbare Maß übersteigt. Dies können wir sehr gut an unserer heutigen Situation sehen, wie der Dauerkrise des Krankheitssystems, die die gesellschaftliche Tragfähigkeit zu sprengen droht. Eine ähnliche Situation war zur Zeit Buddhas im arischbrahmanischen System der Opferpriesterschaft entstanden.

8.4.3.5. Buddhismus und der Kulturkampf der arischen und drawidischen Systeme

Der alte drawidische Volksglaube war natürlich nie vollständig auszurotten gewesen, und es fand durch die Jahrtausende eine allmähliche Vermischung des arisch-brahmanischen Systems mit dem drawidischen statt, ebenso wie die anfangs blau-blond-arischen Eroberer allmählich immer dunkler wurden. Das Ergebnis dieser Vermischung ist die heutige hinduistische Religion. Der Shivakult z.B. ist ein vor-arischer Kult. Die Urreligionen stellten auch die Mehrzahl der Asketen, Sadhus, Munis, etc. mit denen das indische spirituelle Universum so reich gesegnet ist. Diese suchten die Erleuchtung im do-it-yourself Verfahren, ohne die Vermittlung der Priester-Hierarchien. Dadurch waren sie der offiziellen brahmanischen Religion natürlich ein Dorn im Auge. Buddha war ein Kshatria, also ein Mitglied der Herrengesellschaft. Er hatte also auch seine Klasse verraten, als er sich in den Jahren seiner Askese solchen Gruppen anschloss. Sein Mittelweg, den er dann verkündete, war daher auch ein Mittelweg zwischen der streng hierarchisch organisierten brahmanischen Priester-Herrschaft, und der anarchischen Sadhu-Subkultur. Und so organisierten sich im Gefolge des Buddha die Mönchsgemeinschaften als ein Mittelding zwischen diesen beiden Extremen.

8.4.3.6. Der Pfeil, der nie geflogen ist

Es wird eine schöne Legende berichtet, mit der Buddha das Ziel und die Methode seiner Lehre exemplarisiert - Das Pfeilgleichnis: Ein Mann ist von einem vergifteten Pfeil getroffen worden, aber als ihn ein Arzt behandeln will, sagt der Mann: "Bevor du mich behandelst, möchte ich zuerst wissen, wer diesen Pfeil abgeschossen hat, was für eine Bauart der Bogen ist, von dem er abgeschossen wurde, etc etc." Der Buddha sagt: Der Mann ist längst gestorben, bevor er Antwort auf die Fragen bekommen kann. Daher lehrt er die Methode, die Verletzung zu heilen, und nicht, die Gründe der Verletzung zu finden.

Dies mag zur damaligen Zeit ein schlagkräftiges Argument gewesen sein. Ob es heute noch so akzeptiert werden kann, möchte ich hier in Zweifel stellen. Ich meine, daß es bestimmte Wesenstypen von Menschen gibt, die sehr wohl davon profitieren können, zu wissen, wie der Pfeil geflogen ist. Die heutige Menschheit hat gegenüber den Zeiten von Buddha sicher keinen moralischen oder ethischen Fortschritt gemacht, eher das Gegenteil. Daher sind Methoden, die bei der ethisch-moralisch-emotionalen Existenz des Menschen ansetzen (wie sie der Buddha in seinem achtfachen Pfad formuliert hatte), nur noch von wenigen Menschen durchführbar. Aber die Fähigkeiten des logischen und formalen Denkens sind in unserer Zivilisation sehr verbreitet. Und das ist bei der hier vorliegenden Sachlage auch relevant. Wir können das Pfeil-Gleichnis nämlich herumdrehen: Wenden wir z.B. das Zenosche Paradox (des Pfeils, der nie fliegen kann) auf das Gleichnis des Buddha an, dann sehen wir: Der Pfeil konnte nie fliegen, weil er irreal ist, und daher sehen wir, daß unser Patient auch nicht getroffen worden sein kann, und er leidet lediglich an einer Halluzination, und wir rufen ihm zu: Nimm Dein Bett und wandele!

Die Irreführung, die Maya, oder das Samsara, ist eine spezifische und systematische Verzerrung des Wahrnehmungs- und Existenzsystems der Menschen. Das radikale Erkennen der Struktur dieser Verzerrung ermöglicht uns die Neuprogrammierung unserer existenziellen Systeme. Dies ist die Methode der richtigen Erkenntnis, die bei einem bestimmten Typ von Menschen der Ansatzpunkt für die Transformation ist. Und mit dieser Methode wollen wir uns jetzt beschäftigen.

8.4.4. Nagarjuna formuliert die Madhyamika-Lehre
Nagarjuna aus Berar in Mittelindien (ca. +100) war Brahmane, hatte also die extreme geistige Schulung durchlaufen, die für diese Gruppe charakteristisch ist. Zu den Selbstverständlichkeiten, die diese Menschen im Schlaf beherrschten, war das Memorieren von ganzen Bibliotheken von Text: Die Veden, Upanishaden, die Opfergesänge u.v.m. Die mnemonischen Leistungen, die diese Menschen vollbrachten, sind von keiner Menschengruppe in keiner Zivilisation je wieder erreicht worden. Dies muß berücksichtigt werden, wenn man sich der speziellen Variante des Buddhismus zuwendet, der Nagarjuna angehört. (ANM:VEDA [122] )

Nagarjuna kann als der erste, größte und tiefste buddhistische "Logiker" des Denkens der Leere gelten. Er gründete die Schule des Madhyamika, und hat als erster ein philosophisches System des Mahayana geschaffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das für die Mathematik essentielle Konzept der Null (shunya) aus der Philosophie der Leere des Nagarjuna abgeleitet ist. (ANM:NULL [123])

8.4.5. Sein oder Werden, das ist hier die Frage
Shakespeare hat mit seinem unscheinbaren Zitat "Sein oder Nichtsein" seinen Protagonisten Hamlet zum Stellvertreter der grundlegendsten aller Fragen der menschlichen Denksysteme gemacht. Diese Frage steht am Beginn sowohl der westlichen als auch der östlichen Philosophie, und sie wurde, je nach Zeit und Ort, verschieden beantwortet. Parmenides hat diese Kernfrage so formuliert:

estin e ouk estin -- es ist oder es ist nicht

Dies ist die erste uns erhaltene Fassung des fundamentalsten Satzes westlichen Denkens, den man auch unter einem anderen Namen kennt:

Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten.

Plato sagt zum Thema des Sein und des Werdens:

Zuerst nun haben wir meiner Meinung nach folgendes
zu unterscheiden : Was ist das stets Seiende und kein Ent-
stehen Habende und was das stets Werdende, aber nimmer-
dar Seiende; das eine ist durch verstandesmäßiges Denken (28 a)
zu erfassen, ist stets sich selbst gleich, das andere dagegen
ist durch bloßes mit vernunftloser Sinneswahrnehmung ver-
bundenes Meinen zu vermuten, ist werdend und vergehend,
nie aber wirklich seiend. Alles Entstehende muß ferner
zwangsläufig aus einer Ursache entstehen. Denn für alles
ist es unmöglich, ohne Ursache zu entstehen.
BIB:PLATO-WERK7 , 27d-28a

Parmenides formulierte seinen Satz etwa zur gleichen Zeit wie der Buddha seine Lehre von der Shunyata. Wie das Pfeilgleichnis verdeutlicht, war es dem Buddha im Gegensatz zu seinen griechischen Zeitgenossen nicht daran gelegen, die Natur der Dinge zu ergründen, sondern er wollte nur das hinreichend nötige Wissen vermitteln, um die Kettung an die Welt des Gegenständlichen zu überwinden. Das war die wesentliche Weichenstellung, nach der die buddhistischen und westlichen Denksystems dann in eine gegensätzliche Richtung divergierten.

8.4.5.1. Das Seiende als sprachliche Kategorie

Es war den Griechen wohl nicht bewußt, daß sie mit ihrer Philosophie lediglich ein semantisches Schattenspiel aufführten, das auf den grammatischen Regeln der griechischen Sprache beruhte. (ANM:EXKLUSIV [124] ) Aristoteles hatte dieses Spiel auf seinen Höhepunkt getrieben, und die gesamte westliche Welt hat in den folgenden 2300 Jahren nichts anderes getan, als in den von ihm gelegten Bahnen weiterzuarbeiten. Dies ist es, was am Anfang mit der "klassisch-aristotelischen Gestalt des Denkens" bezeichnet worden war.

8.4.5.2. Die Ontologie als Epiphänomen der Sprachstruktur

Wir müssen uns vergegenwärtigen, das das Denken des Seienden dermaßen tief in das westliche Bewußtsein eingedrungen und integriert ist, daß es uns kaum möglich ist, etwas anderes als von dieser Kategorie Gebildetes zu denken. Das macht uns schon einer der Grundbegriffe der westlichen Philosophie klar: Das Wort "Ontologie". Wir reden in der Philosophie von der Ontologie aller möglichen Dinge und Begriffe, sogar von der Ontologie des Werdens. Das ist aber ein Widerspruch in sich selbst. Es gibt keine Ontologie des Werdens, da es kein Sein des Werdens gibt. Es gibt nur verschiedene Vorstellungen von Werden, und wenn unser ganzes Denksystem auf Seiendes ausgerichtet ist, dann können wir uns etwas unter "Werden" vorstellen, das aber immer und ewig an den Kategorien des Seienden ausgerichtet ist. (Zu dieser Problematik auch die Zitate aus BIB:BUDDH-STRENG weiter unten.)

8.4.5.3. Das Seiende als Sprachmagie

Das Seiende ist nichts anderes als ein Artefakt (also ein Nebenprodukt) einer sprachlichen Kategorie. Wir Menschen der westlichen Zivilisation haben uns so daran gewöhnt, die Namen und Bezeichnungen die wir den Dingen geben, mit den Dingen selber gleichzusetzen, daß es höchstes Erstaunen und höchste Ungläubigkeit, sogar Ablehnung und Feindlichkeit hervorruft, wenn man das ernsthaft in Zweifel zieht. Die Benennung der Dinge entspringt dem fundamentalen Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Hier ist die enge Verbindung von Namensgebung und Magie offenbar. Einem Ding einen Namen geben, heißt, es den magischen Bann des menschlichen Vorstellungs- und Manipulationsvermögens zu ziehen. Und nichts anderes als das ist auch die heutige Naturwissenschaft, die die Manipulation der Dinge auf die Spitze getrieben hat. (S.a. BIB:HAARMANN92)

8.4.5.4. Heraklit verliert gegen Parmenides

Es hatte im alten Griechenland eine Auseinandersetzung zwischen der Denkschule des Parmenides und des Heraklit gegeben, bei der die Partei Heraklits unterlag. Während Parmenides der Vertreter des Seienden war, war Heraklit der Exponent des Werdens. Er hatte erkannt, daß trotz unserer eifrigen sprachlichen Bemühungen nichts auch nur einen Augenblick konstant blieb. "Panta rei -- alles fließt" war sein Grundsatz. Man kann nicht in den selben Fluß zweimal steigen. Diese Denkrichtung war es, die Buddha im Osten ausformulierte. Zur selben Zeit hatte aber der Taoismus in China mit Lao Tsu und Chuang Tsu eine analoge Formulierung gefunden (Siehe das Tao Te King.). Dies ist essentiell, weil der Chan Buddhismus, aus dem sich das japanische Zen entwickelte, mühelos auf die schon vorhandene Denkbasis des Tao-Denkens aufsetzen konnte. Hier liegt auch ein Ansatzpunkt, zu forschen, ob die mongolische Sprachfamilie, der das Chinesische und das Tibetische angehören, sprachliche Dispositionen hat, denen diese Denkform leichter fällt.

8.4.5.5. Die Logik des Werdens

Das buddhistische Verständnis der Welt beruht auf der Erkenntnis, daß das erlebte Leben, das Sein des Menschen, die Welt, das Samsara, nicht auf Sein im Sinne von irgendetwas unverrückbar Daseiendem beruht (ANM:SEIENDES [125]). Die Lehre von der bedingten Entstehung besagt vom Leben: Es ist ein Prozess, ein immerwährendes Werden. Wobei die Idee des Immerwährenden natürlich schon wieder eine Seinskatogorie durch die Hintertür einführt. Es ist in unserer von 2500 Jahren Denken des Seins geprägten Sprache nicht möglich, überhaupt das Konzept adäquat auszudrücken, da wir mit jedem Wort wieder zurück in die Kategorien des Seins fallen. Daher spricht Nagarjuna in jedem zweiten Satz von der Leere. Eine Welt, deren Basis auf einer "Onto"-Logie des Prozesses aufgebaut ist, ist für die Ontologie des Seienden eben leer, weil es mit keiner Kategorie dieser Ontologie zu erfassen ist. Das Werden ist transkategoriell.

8.4.5.6. Wenn das Wörtchen "Werden" nicht wär

Unser täglicher unbedenklicher Gebrauch des Wortes "Werden" und aller seiner Ableitungen, wie etwa dem oben gebrauchten "Prozess" täuscht uns darüber hinweg, daß dieses Wort eine linguistische Tretmine, ein semantischer Wolpertinger ist. Zenos Paradoxien beruhen darauf, daß in einem semantischen Universum des Seienden, wie es nun einmal die indogermanische Sprachfamilie ist, das Werden keinen Platz hat. Und so konnte er seine Zeitgenossen, ebenso wie uns heute noch, an der Nase herumführen. Wir können das Werden eben nur als einen mehr oder weniger unerklärlichen Übergang zwischen zwei oder mehreren unterscheidbaren Zuständen des Seienden wahrnehmen (oder eher: falschnehmen). Hier tritt aber der unvermeidliche und unüberbrückbare logische Bruch auf, auf den Zeno hingewiesen hat. Eine Logik aristotelischer Prägung läßt sich nur auf der Basis des Seienden erstellen, im Bereich des Werdens gibt es keinen Satz von der Identität, vom Widerspruch, und vom ausgeschlossenen Dritten.

Das semantische Universum unserer sprachlichen Vorstellungswelt ist topologisch. Unsere Begriffe formen ein semantisches Netzwerk, das durch seine Assoziativität auf eine ebenso oder noch wesentlich komplexere Weise miteinander verwoben und verknüpft ist wie die Neuronen unseres Nervensystems über die Dendriten. Die Erfindung der Schrift hat diesem System seinen Flux geraubt, den es vorher (den Menschen unmerklich) immer hatte: Die Bedeutung der Worte und ihre Relationen untereinander veränderten sich vor der Schrift von Generation zu Generation. Erst mit der Schrift und den durch sie ermöglichten Arbeiten des Aristoteles und der Stoa, und ihrer Nachfolger wurde dieses System zu einem Struktursystem von Bedeutungen, die trotz der immer weitergehenden Fluktuation der gesprochenen Sprachen in den letzten 2500 Jahren eine ziemliche Konstanz bewahrt hat.

8.4.5.7. Das Nirvana als Verlassen des Werdens-Prozesses

Fundamental to an understanding of nirvana is the perception of the reality of "becoming" for which nirvana ist the answer. If we see that the "becoming" is a fundamental ontological category denying the static "being", then there is no need for a static ontological substratum to undergird a "process of becoming"; and the question of whether there "is" or "is not" something remaining when there is no longer fabrication of existence does not apply.

Fundamental für ein Verständnis des Nirvana ist das Erkennen der Realität des "Werdens", für die das Nirvana die Antwort ist. Wenn wir sehen, daß "Werden" eine fundamentale ontologische Kategorie ist, die das statische "Sein" verneint, dann gibt es keine Notwendigkeit für ein statisches ontologisches Substrat, welches dem "Prozess des Werdens" als Fundament unterliegt. Und so wird die Frage sinnlos, ob da "irgendetwas" übrigbleibt oder nicht, wenn es keinen Prozess der Erzeugung von Existenz mehr gibt.
BIB:BUDDH-STRENG , p. 81

Wir müssen hier die Frage stellen, ob wir mit dem westlichen Verständnis von Ontologie überhaupt noch arbeiten dürfen, oder ob es sicht nicht mehr um eine "Onto"-Logie handelt, ein Grundverständnis, bei dem das Ontische selbst herausfällt.

By clearly understanding that there is no absolute essence to which "emptiness" (or "nirvana" and "perfect wisdom") refers, we recognize that when emptiness is described as inexpressible, inconceivable, and devoid of designation, it does not imply that there is such a thing having these as characteristics. Emptiness is nonsubstantial and nonperceptible. As "nonsubstantiality" does not indicate non-existence, but a denial that things are real in themselves, so "non-perceptibility" does not mean a state of unconsciousness; rather, it serves to check the inclination to substantialize phenomena through conceptualization. Thus, "emptiness" itself is empty in both an ontological and an epistemological sense: "it" is devoid of any self-sufficient being, and it is beyond both designations "empty" and "non-empty". Only if both senses are kept in mind can we see how Nagarjuna relates the "emptiness of the phenomenal world" to the "emptiness of any absolute entity or assertion".

In der Übersetzung möchte ich shunyata als Terminus technicus beibehalten. Es hat keinen Sinn, ihn übersetzen zu wollen. Seine Leerheit wirkt dadurch umso besser, je weniger Bedeutung wir in ihn hineininterpretieren.

Indem wir klar verstehen, daß keine absolute Esszenz vorhanden ist, auf die shunyata hinweist, erkennen wir, wenn shunyata als unausdrückbar, unvorstellbar, und bar jeder Bezeichnung beschrieben wird, daß dies nicht impliziert, daß es da ein Ding gäbe, das diese Bezeichnungen als Charakteristiken besitzt. Shunyata ist insubstantiell und unerkennbar. Insubstantialität bedeutet nicht "Nicht-Existenz", sondern lediglich die Verneinung, daß die Dinge aus sich selbst heraus wirklich sind. Daher meint Unerkennbarkeit auch nicht einen Zustand der Unbewußtheit; sondern es dient dazu, die Tendenz einzudämmen, die Phänomene durch Konzeptualisation zu verdinglichen. Daher ist shunyata selber leer sowohl im ontologischen wie im epistemologischen Sinne. Sie ist leer eines jeden selbst-genügenden Seins, und sie ist jenseits beider Charakterisierungen "leer" und "nicht-leer". Nur wenn wir beide Seiten im Sinn behalten, können wir sehen, wie Nagarjuna die "Leerheit der phänomenalen Welt" mit der "Leerheit jedweder absuluten Entität oder Annahme" in Beziehung setzt.

BIB:BUDDH-STRENG , p. 80

Solche Formulierungen machen klar, warum die Philosophie Nagarjunas von den mehr aristotelisch orientierten westlichen Philosophen als ein Haufen von Kraut und Rüben angesehen wird.

8.4.5.8. Die Sprachstrukturen des Seienden

Nach der Sapir-Whorf Hypothese (BIB:WHORF56 ) wird das Denken der Menschen durch ihre Sprache dominiert oder sogar determiniert. Wenn uns unsere Sprachstruktur, die Grammatik, mit ihrer alles dominierenden Form von "Subjekt-Prädikat-Objekt" suggeriert, daß da immer ein "seiendes" Subjekt sein muß, das an einem "seienden" Objekt etwas "tut", dann kann man irgendwann einmal nicht mehr den Gedanken fassen, daß es auch anders sein könnte. Whorf hat uns Beispiele von Indianersprachen gegeben, die auf völlig anderen Sprachkategorien beruhen, als unsere indogermanischen (und semitischen) Sprachen. Griechisch, die Wurzelsprache des westlichen Denkens, und Sanskrit, die der indischen Philosophen, sind indogermanische Sprachen, deren Kategorien auf solche Konstrukte optimal eingerichtet sind. Die mongolisch altaische Sprachfamilie, der auch Tibetisch und Chinesisch angehören, hat andere Kategorisierungen, die ich hier aber mangels genauerer Kenntnisse nicht explizit behandeln kann, und lediglich als Leerstelle betrachten muß.

8.4.5.9. Die Shunyata als quasi-formaler Operator

Mit dem Konzept der Shunyata hat Nagarjuna die einzig mögliche Form in einer indogermanischen Sprache gefunden, etwas kategorisch Unausdrückbares auszudrücken. In der heutigen Wissenschaft weist die Quantenphysik auf Realitäten hin, die unsere bekannten Kategorien des objektiven und subjektiven Seins hinter sich lassen. Und unsere Begriffssysteme sind auch darüber hinausgekommen. Die formale Logik und Mathematik, wie sie mit Leibniz als einem der großen Urheber gegeben ist, ist ein Symbolismus, der auf seine Weise etwas macht, was Nagarjuna vorweggenommen hat. Die formalen Sprachen der Logik operieren mit ihren Zeichen rein auf der Basis der Erscheinung des Zeichens, völlig unbeachtet einer Bedeutung des Zeichens. Nagarjuna hat mit seiner Logik der Leere etwas vorweggenommen, das die Erscheinungen der phänomenalen Welt genauso inhaltsleer und bedeutungslos macht, wie die logischen Symbole der formalen Sprachen inhaltsleer sind. Die Gesetze der Bedingten Entstehung lassen sich ohne weiteres in die Kategorien formaler Rechenregeln übersetzen, so daß wir in der Logik des Nagarjuna den informellen, und auf die menschliche Existenz angewandten Vorläufer unserer modernen formalen Sprachen erkennen können. Insofern gibt es kein "Sein" des Nirvana, es gibt kein "Sein" des Tathagata, sie sind alle leer, wie auch die unzähligen von den Bodhisattvas hinübergeführten Wesen, die nie existiert haben. Unsere jetzige Existenz, in der wir uns als beseelte, individuelle Lebewesen begreifen, ist nichts als ein inhaltsleerer Kalkül, von der Seite des Nirvana-Denkens oder Kenomén aus gesehen.

8.4.6. Das Prajnaparamita Sutra:
Der Stein der Weisen des Nirvana-Denkens
Nagarjunas Werk ist das Ergebnis der Anwendung des vedisch/indogermanisch/logischen brahmanischen Denkens auf die in den Prajnaparamita Sutras enthaltene Kondensation der Lehren des Buddha. Nagarjunas Ausführungen sind eher trocken, abstrakt, und enthalten nichts von den Empfindungswerten, die mit dem Erreichen des Nirvana-Denkens oder Kenomén verbunden sind. Diese Beschreibungen finden wir in den Prajnaparamita Sutras (der Weisheit, die die Horizonte hinter sich gelassen hat). Das "Summum Bonum" der Prajnaparamita:


GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SVAHA

in die moderne Sprache des Kenomén übertragen:


Gegangen, gegangen, jenseits der Horizonte gegangen
die Gesamtheit des universalen Bewußtseins
die Klarheit
Aha!

Zur damaligen Zeit sprach man noch von dem anderen Ufer, zu dem hin mit dem kleinen Boot des Hinayana oder mit dem großen Boot des Mahayana der Strom des Samsar überquert werden mußte, um das rettende Ufer des Nirvana zu erreichen. Heute dreht es sich darum, die Horizonte des aristotelisch-zweiwertigen Denkens und des Denkbaren, Begreifbaren, Manipulierbaren, hinter uns zu lassen, uns nicht mehr von den Spiegelungen unserer Gedanken täuschen zu lassen. Es ist auch nicht mehr eine Sangha, die Gemeinschaft der buddhistischen Mönche und Laien, die den Übergang sucht, sondern es ist das gesamte Universum, das bewußte Universum, so wie es Plato im Timaios und Teilhard de Chardin in seinen Werken formuliert hat. Das gesamte Universum ist bewußt, alle Wesen dieses Universums sind miteinander verbunden, keines ist getrennt von keinem anderen. Kein Stein, kein Staubkorn, kein Wassertropfen ist getrennt. Wir Menschen bilden eine Kristallisationsfläche, an der sich das Bewußte reflektiert. (ANM:BEWUSST [126] ) Wir sind die Subjektivität der Reflexion des Universums. Aber durch diese Subjektivität in keiner Weise bevorzugt oder ausgenommen, abgelöst, oder speziell. In dem Augenblick, in dem wir unsere Einheit mit dem Universum erfahren, erfüllt uns die unendliche Klarheit der Erkenntnis, die jenseits des Denkens liegt, die Prajnaparamita. Dafür gibt es keine Worte mehr, und wir sagen nur noch: Aha!

8.4.6.1. Shunyata als Gegenkonzept zur ousia

Die Seins-Existenz (siehe dazu auch ANM:ARISTOTELES [127] ) der Dinge wird im Buddhismus negiert. Nagarjuna vollzieht in seinen Lehren eine Diskussion, die aussieht, als wäre sie als genaues Gegenstück zu der Metaphysik des Aristoteles gedacht. Während Aristoteles dort sein Konzept der ousia entwickelt, baut Nagarjuna mit der shunyata das konsequente Gegenbild dazu auf. (ANM:EINFLUSS [128] ).

Der Begriff des eigenen Wesens (svabhava = ousia?):
Eigenes Wesen bedeutet nach Nagarjuna, der indischen Wortbedeutung entsprechend, ein Sein aus sich selbst und nur durch sich selbst bedingt, unabhängig von allem anderen. Daraus folgt aber, daß ein solches eigenes Wesen nicht entstanden ist, weil es nicht verursacht sein kann, und daß es nicht dem Vergehen unterworfen ist, weil sein Bestehen von nichts anderem abhängt. Es ist daher ewig und unveränderlich. Und so folgert denn Nagarjuna, daß die Dinge der Erscheinungswelt, weil sie dem ständigen Werden und Vergehen unterliegen, kein eigenes Wesen besitzen können. Sie sind also wesenlos, d.h. unwirklich.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 173

In diesem Denkzug geht Nagarjuna einen ähnlichen Weg wie Plato (siehe das obige Zitat aus Timaios). Dieser relegiert die Welt der phänomenalen Erscheinungen in den Bereich der Doxa, also des Meinens, Scheins und sich Täuschens und nimmt allein die Ideen als wirklich an. Ideen aber sind Wesen in einem semantischen Universum. Damit hat sich Plato aber genau in den Gitterstäben jenes semantischen Universums der indogermanischen Sprachfamilie gefangen, das schon erwähnt worden ist.

8.4.6.2. Die Theorie des Anatman

Das Konzept des Atman der brahmanischen Lehre ist weitläufig mit der abendländischen Idee der menschlichen Seele, also des individuellen Wesenskerns (der nach christlicher Doktrin unsterblich ist), zu vergleichen. Das Atman hat als Wesenskern Teil an der Existenz des Jenseitig-Seienden Brahman und die Realisation des Aufgehens des Atman in Brahman ist die Erleuchtung im vedantischen System nach Shankara. Diese Systematik ist wiederum mit der Unio Mystica der jüdisch/christlich/islamischen Religionen zu vergleichen. Dadurch, daß man eine solche Existenz verneint, befreit man sich von einer Menge vergeudeter Energie, die im Westen und im Brahmanismus in die theologische Spekulation um die Natur und Art des Jenseitig-Seienden investiert wurde. Weiterhin befreit man sich von der Last der Spekulation darum, wie dieses Jenseitig-Seiende denn nun zu erreichen sei.

8.4.6.3. Die Theorie der abhängigen Entstehung

Die Persönlichkeit eines Wesens (z.B. Menschen) wird durch einen Prozess gebildet, dessen Komponenten sich gegenseitig bedingen, den Skandhas. Es ist ziemlich sinnlos, diesen Begriff übersetzen zu wollen, wie etwa bei Conze mit "Haufen". Da ist eine Herangehensweise im Sinne einer formalen Logik mit bedeutungslosen Zeichen schon sinnvoller, oder aber man läßt den Term so wie er ist: (Die architektonische Betrachtungsweise basiert nicht auf Begriffen, sondern auf der Struktur, eben der Architektonik, deren Eigendynamik dann die Bedeutung der Begriffe erzeugt.) Die wesentliche Eigenschaft der Skandhas ist, daß sie kein Sein haben, also nicht unabhängig von irgendetwas anderem existieren. Sie sind z.B. nicht definierbar und es gibt keine apriorischen Begriff davon. Wir können den Skandhas zwar konventionelle Namen geben, aber mit der Warnung, daß keiner glauben darf, daß die Skandhas "etwas sind":

Avalokita, der heilige Gebieter und Bodhisattva, begann die Bewegung seines Geistes aus der Prajnaparamita, der Weisheit, die die Horizonte hinter sich gelassen hat. Er schaute hinab von jener Perspektive, und er stellte fest, daß lediglich fünf Skandhas vorhanden waren, und er sah, daß diese in Ihrem Selbst-Sein leer waren.
BIB:BUDDH-CONZE58 , p. 78-79

8.4.6.4. Die fünf Skandhas

Die Skandhas sind die fünf Bestandteile unserer Persönlichkeit, so wie sie erscheint. In der Analyse können alle Gegebenheiten unseres Erlebens - von uns selbst und von Objekten in Relation zu uns - mit der Begrifflichkeit dieser Skandhas erfaßt werden, ohne das nebulöse Wort "Ich" einzuführen.
BIB:BUDDH-CONZE58 , p. 79

Hier, O Sariputra, Form (rupa) ist Leere (shunyata) und gerade die Leere ist Form; Leere ist nicht verschieden von Form, und Form ist nicht verschieden von Leere; was auch immer Form ist, das ist Leere, was auch immer Leere ist, das ist Form, und dasselbe betrifft Gefühle (vedana), Sinneswahrnehmungen (samjna), Impulse (samskara), und Aufmerksamkeit (vijnana).
BIB:BUDDH-CONZE58 , p. 81

Die fünf Skandhas werden hier genannt: Form, Gefühle, Wahrnehmungen, Impulse, und Aufmerksamkeit. Die Übersetzungen sind nur als annähernd zu betrachten. Vergleichen wir damit die Argumentation des Aristoteles in der Metaphysik. Für ihn ist morphae die Form, und hylae mater/matrix/materie/stoff, das wesentliche Gegensatzpaar in seiner Diskussion des letztlich Seienden. Für ihn ist die Form das Seiende, die ousia. Seine Form und die platonische Idee erfüllen damit denselben Zweck.

8.4.6.5. Die Fata Morgana des Seienden

Die 2500 Jahre währende Suche westlicher Philosophie nach einer absoluten Esszenz des Seienden, die in eine logisch zwingend notwendige Existenz eines allmächtigen, und allwissenden Agens, den Omnipotenzoperator, genannt "Gott" geführt hat, und so großartige Geistesgebäude wie die Philosophie des Thomas Aquinas hervorgebracht hat, ist eine Jagd nach der Fata Morgana. Notwendigerweise mußte die westliche Suche der Denker und Mystiker sich in immer höhere Höhen hinaufschwingen, um der grandios hochstilisierten Omnipotenz ihres Gottes gerecht zu werden. Die Erkenntnis Buddhas und Nagarjunas ist dagegen ernüchternd: Die Idee des "ultimaten", "absoluten", "jenseitigen", "transzendenten", die "Erleuchtung" als irgendein großes Licht, das (deus ex machina) erscheinen soll, ist Teil der jahrtausende alten Selbsttäuschung, daß da irgendetwas großartiges Transzendentes ist, das jenseits unserer Existenz liegt. Diese Fata Morgana gilt es zu überwinden und zu transzendieren. Die simple Erkenntnis der Prozesshaftigkeit der Existenz, und der absoluten Transkategorialität des Nirvana, die in nichts anderem als dem Wesen des Prozesses begründet liegt, in dem wir uns befinden.

8.4.7. Die Logik der Befreiung
Das Leiden, so wie vom Buddhismus verstanden, ist eine Folge der semantischen Fixierung. Die Menschen sind die einzigen Lebewesen, die sich ein linguistisches Bild von den Zuständen machen, so wie sie sind, und so wie sie (nach Meinung der Menschen) sein sollten. Tiere und Pflanzen nehmen die Welt so wie sie ist. Sie versuchen nicht, sie zu beeinflussen, sondern passen sich ihr an, und leben ihr Leben, bis es sein Ende erreicht, und sich ihre zellulare Substanz wieder mit dem großen Ozean der Biomasse des Planeten vereinigt. Die organischen Substanzen der Zellen überleben in der planetaren Biosphäre die Lebensspanne der Einzelindividuen, und sind damit quasi unsterblich. Auch das Leben des Planeten ist endlich, aber um wieviele Größenordnungen länger als das der Individuen! Für uns jedenfalls sind die ca. 10 Milliarden Jahre Lebensspanne des Planeten nichts weniger als die Ewigkeit.

Der Mensch schafft sich mit seiner Sprache ein Schatten-Universum, das dadurch umso realer erscheint, als wir ja immer in Gesellschaft leben, also eine Konsensus-Realität mit unseren Mitmenschen errichten. Diese Konsensus-Realität hat aber sehr oft sehr wenig mit der Situation im Universum zu tun. (ANM:KULTUR-TOD [129] )

Die Absicht Nagarjunas ist es, innerhalb der Kategorien der indogermanischen Sprache eine ähnliche Art von Paradoxien aufzustellen, wie Zeno es getan hat. Er führt damit den in der Semantik implizit enthaltenen Realitätsanspruch von Sprach- und Denkkonstrukten ad absurdum und verweist auf das, was mit Sprache nicht zu fassen ist: Die Shunyata. Das Sprach/Denksystem ist ein autonomer Prozess, der in unseren Gehirnen abläuft, von dem wir uns hypnotisieren lassen. Wir können aber diesen Prozess in seiner Automatik einfach weiterlaufen lassen, und unsere Aufmerksamkeit von dem Automatismus abwenden. Gelingt uns das, so sind wir in Nirvana eingetreten.

Die Erscheinungswelt (samsara) und das Nirvana sind ein und dasselbe. Es besteht zwischen ihnen nicht der geringste Unterschied. Daraus folgt aber auch, daß das Nirvana nichts Getrenntes für sich ist, das man erlangt, indem man sich von der Erscheinungswelt befreit. Es besteht vielmehr nur darin, daß man den Trug der Erscheinungswelt nicht mehr wahrnimmt, indem die Vielfalt, auf die sie sich gründet, zur Ruhe kommt.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 175

8.4.7.1. Madhyamakakarika

Es folgen einige Verse aus Nagarjunas Hauptwerk, der Madhyamakakarika:

Den Buddha, der das abhängige Entstehen verkündet hat als ohne Vernichtung und ohne Entstehen, ohne Aufhören und nicht ewig, ohne Einheit und ohne Mannigfaltigkeit, ohne Kommen und ohne Gehen, als das friedliche Zurruhekommen der Vielfalt (prapancah), ihn, den trefflichsten der Lehrer, verehre ich.

Weder aus sich, noch aus anderem, noch aus beiden, noch ohne Grund sind jemals irgendwo irgendwelche Dinge entstanden.

Denn das eigene Wesen der Dinge ist in den Ursachen usw. nicht vorhanden. Wenn aber kein eigenes Wesen vorhanden ist, dann ist auch kein fremdes Wesen vorhanden.

Es gibt vier Ursachen, den Grund, den Anhaltspunkt, die unmittelbar vorhergehende und die bestimmende Ursache. Eine fünfte Ursache gibt es nicht.

Die Wirkung hat keine Ursache. Die Wirkung ist aber auch nicht ohne Ursache. Ebenso sind die Ursachen nicht ohne Wirkung, sie haben aber auch keine Wirkung.

Wovon das Enstehen eines (Dinges) abhängt, das gilt als seine Ursachen. Solange es aber nicht entsteht, wieso sollten sie solange nicht Nichtursachen sein?

Weder bei einem nichtseienden noch bei einem seienden Gegendstand ist die Ursache am Platz. Denn wessen Ursache ist sie, wenn er nicht ist? Wenn er aber ist, wozu dient dann die Ursache?

Wenn weder eine seiende, noch eine nichtseiende, noch eine seiende und nichtseiende Gegebenheit entsteht, wieso ist dann ein hervorbringender Grund möglich?

Von der seienden Gegebenheit wird gelehrt, daß sie ohne Anhaltspunkt ist. Wenn sie aber ohne Anhaltspunkt ist, woher sollte dann ein Anhaltspunkt kommen?

Solange die Gegebenheiten nicht entstanden sind, kommt die Vernichtung nicht zustande. Daher ist die unmittelbar vorhergehende Ursache nicht möglich. Ist dagegen die Vernichtung eingetreten, was soll dann Ursache sein?

Da es bei wesenlosen Dingen kein Sein gibt, ist es unzulässig, zu sagen: Wenn dieses ist, wird jenes.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 178-180

Nagarjunas Diskussion folgt in ihrer Form den Paradoxien des Zeno, geht aber in genau die entgegengesetzte Richtung. Seiendes ist ewig und kennt keine Ursache. Dies wird auch von Plato in dem Timaios-Zitat oben schon so formuliert. Ein werdendes Ding benötigt eine Ursache, um zu werden. Damit etwas werden kann, muß irgendeine Form, ein Gedanke oder eine Idee dieses Dings schon existieren. Dies wäre aber wieder ein Seiendes, das keine Ursache benötigt. Also sind Ursachen unmöglich. Dies ist eine Problematik der Unterscheidung zwischen den Begriffen, die wir uns von den Dingen machen, und der stillschweigenden Annahme, daß da irgendwelche Dinge für sich existieren. Wir können in der Diskussion Nagarjunas natürlich nicht von "einem Ding-an-sich" nach Kant oder aristotelischen Kategorien des Seienden reden, da er diese ja gerade explizit ausschließt. Die Diskussion Nagarjunas ist eine petitio principii, und daher nicht widerlegbar. Daher kann man Nagarjuna auch nicht so ohne weiteres einen Trugschluß anhängen, wie Frauwallner es tut (a.a.o. p. 176).

8.4.7.2. Vigrahavyavartani

Hier einige Auszüge aus Vigrahavyavartani (Streitabwehrerin). Es ist ein Dialog mit einem Herausforderer, der behauptet:

"Wenn es überall bei allen Dingen kein eigenes Wesen gibt, dann ist deine eigene Rede wesenlos und nicht imstande, ein eigenes Wesen zu widerlegen."

Worauf Nagarjuna sagt:

Wenn meine Rede weder in den Gründen, Ursachen und ihrer Gesamtheit,
noch in getrenntem Zustande vorhanden ist,
dann ist doch die Leerheit der Dinge erwiesen,
eben wegen ihrer Wesenlosigkeit.

Das abhängige Entstehen der Dinge wird nämlich Leerheit genannt. Denn ein Ding, das abhängig entsteht, ist wesenlos.

Ohne die Leerheit der Dinge zu verstehen und
ohne den Sinn der Leerheit zu kennen,
hast du es unternommen, einen Tadel vorzubringen,
(indem du sagst):

Wegen der Leerheit deiner Rede ist deine Rede wesenlos.
Mit deiner wesenlosen Rede ist aber eine Widerlegung
des Wesens der Dinge nicht möglich."
Das abhängige Entstehen der Dinge ist nämlich ihre Leerheit.
Wieso? Wegen ihrer Wesenlosigkeit.
Dinge, welche abhängig entstanden sind,
sind ohne eigenes Wesen, weil ihnen ein eigenes Wesen fehlt.
Wieso? Weil sie von den Gründen und Ursachen abhängig sind.
Wenn die Dinge einem eigenen Wesen nach bestünden,
dann würden sie auch ohne Rücksicht auf Gründe und Ursachen bestehen.
Das ist aber nicht der Fall.
Daher sind sie wesenlos.
Und weil sie wesenlos sind, werden sie leer genannt.
Somit ist erwiesen, daß auch meine Rede,
weil sie abhängig entstanden ist,
wesenlos ist, und weil sie wesenlos ist, leer ist.
Wie aber Wagen, Kleider, Töpfe usw.,
obwohl sie abhängig entstanden und daher
von eigenem Wesen leer sind, trotzdem ihre verschiedenen Wirkungen ausüben,
nämlich das Holen von Holz, das Holen von Erde,
das Enthalten von Honig, Wasser und Milch,
das Schützen gegen Kälte, Wind und Hitze usw.,
ebenso führt diese meine Rede, obwohl sie
abhängig entstanden und daher wesenlos ist,
trotzdem den Nachweis der Wesenlosigkeit der Dinge.
Wenn du daher gesagt hast: Deine Rede ist wegen ihrer Wesenlosigkeit leer und
wegen ihrer Leerheit ist es nicht möglich,
durch sie das eigene Wesen aller Dinge zu widerlegen,
so ist das nicht richtig.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 200-202
8.4.8. Die Lehre Nagarjunas für die heutige Zeit
Die Erlebnisqualität einer längerdauernden Beschäftigung mit Nagarjunas Lehren ist das Gefühl einer gewissen Leere in der Magengrube. Irgendwie fühlt man sich an das berühmte ägyptische Märchen vom Krokodildoktor erinnert:
Krankheit weg, Patient gefressen, Krododil satt, alles paletti.
Oder wir können sagen, hier haben wir den Erfinder der universellen Relativitätstheorie vor uns, 1700 Jahre vor Einstein. Alles ist relativ zu allem anderen. Nichts ist sicher, fest, bekannt, verläßlich. (ANM:RELATIV [130] ) Der aristotelische westliche Verstand steht vor einem riesigen Scherbenhaufen von zerschmetterten Konzepten über die Realität der Dinge und fragt sich, ob das Ganze nicht vielleicht doch nur ein grober Unsinn gewesen ist.

Aber das wäre ein Fehlschluß. Die Shunyata-Lehre Nagarjunas kann nicht allein für sich betrachtet werden. Ebenso wie er alle Dinge als gegenseitig abhängig betrachtet, und nichts allein für sich, so ist sein System abhängig von dem scholastischen System des Abidharma und den brahmanischen Systemen seiner Zeit. Gegen diese richtet er seine Dialektik, aber ohne sie wäre sie tatsächlich völlig unsinnig. Das ist das Problem des heutigen Verständnisses, da wir diesen Kontext nicht mehr sehen. Nagaruna verneint keinesfalls die Gültigkeit konventioneller Weisheit, und als solche bezeichnet er die Lehren des Wissens, gegen die er argumentiert. Im Gegenteil: Ebenso wie er wohl alle brahmanischen Schriften und die Abhidarma-Lehren kannte und vielleicht sogar auswendig rezitieren konnte, so muß die Anwendung dieses Wissens vom Wißbaren geschehen, mit seiner Shunyata-Lehre als immer präsente Mahnung und Warnung, nicht dem verführerischen Zauber der Sprache zu verfallen. Und diese Warnung gilt für die heutige Wissenschaft ebenso wie damals:

It is the danger of language to posit an essential reality within ideas.
BIB:BUDDH-STRENG, p. 53
8.4.9. Die Weisheit in Freiheit
Die Weisheit des Buddhismus ist prajna, die Beziehung-der-Leere zu allen Dingen, in totaler Freiheit. Weisheit als der Weg zur Erlangung der totalen Freiheit ist die größte Gefahr einer unentrinnbaren Kettung. Wenn Weisheit als "Ding-an-Sich" erfaßt und begriffen wird, dann verwandelt sie sich sofort in eine verführerische Spiegelung. Wenn sie als eine fixierte Position errichtet wird, wird sie zur mentalen Falle, und entwickelt die ihr eigene zerstörerische Dynamik.

Die prajnaparamita ist Weisheit ohne ein Objekt des Wissens.

frei nach BIB:BUDDH-STRENG, p. 82
8.4.10. Die Archae:
Gemeinsamer Urgrund westlichen und östlichen Denkens
Im griechischen Denken finden wir Hinweise auf ein Konzept, das der shunyata ähnlich ist, die archae.

8.4.10.1. Hesiod und das Chaos: Im Anfang war die Leere

Wir finden in der Theogonie Hesiods den Ausspruch: "Im Anfang war das Chaos." Chaos wird in seiner normalen heutigen Bedeutung als "ungeordnet", "unwirklich", eben "chaotisch" verstanden. Die wesentliche Bedeutung für Hesiod ist aber: Der leere, unermeßliche Raum. Die absolute Leere. Die Archae, der Ursprung, ist etwas, das mit den Kategorien des Seienden nicht zu erfassen ist, und für diese Kategorien daher leer. Hier liegt der Urgrund, aus dem die gegensätzlichen Denksysteme der Europäer und des Buddhismus entstanden sind. Plato war sich noch durchaus dieser Bedeutung der archae bewußt, denn er hat im Timaios, 48 c explizit angegeben, daß der Ursprung der Dinge außerhalb der Behandlung mit Worten und Begriffen liegt:

Über den "Ursprung von allem" oder die
"Ursprünge" oder wie man es sonst damit hält, soll jetzt nicht
gesprochen werden, und zwar aus keinem anderen Grunde,
als weil es schwierig ist, unsere Meinung bei der gegenwärti-
gen Weise der Behandlung deutlich darzulegen. Glaubt also
ihr nicht, ich müsse darüber sprechen, noch dürfte ich selbst
imstande sein, mir selbst einzureden, daß ich mich wohl mit
Fug an ein solches Unternehmen wagen dürfe.

8.4.10.2. Das Wort Archae

Das griechische Wort archae hat eine Mehrfachbedeutung, deren zeitlose Vielgestaltigkeit uns heute noch begegnet: In vielen Lehnwörtern, die unser westliches Denken den bahnbrechenden Leistungen der griechischen Philosophen verdankt, ist eine oder andere Bedeutung von archae erhalten: Archäologie, archaisch, Archiv, Monarchie, Oligarchie, Anarchie, Hierarchie, Patriarch, Arch-Bishop, Archangel.

Das Wort archae bedeutet:
1) Anfang, Beginn, Anfangspunkt, Ursache, erste Veranlassung, (phil.) Prinzip.
2) Anführung, Herrschaft, Obrigkeit
3) Reich, Gebiet, Statthalterschaft
4) Ur-Grund, Wesensgrund

8.4.10.3. Die Suche nach der Archae

Das Bestreben der vorsokratischen Philosophen richtete sich auf die Nennung einer Ursubstanz, aus der alle Dinge der faßbaren Welt entstanden sein sollten. Hier schieden sich somit die Geister westlichen und östlichen Denkens. Die westliche Philosophie blieb in der Folge dem Substanzbegriff verhaftet. Man versuchte, wahlweise das Wasser, das Feuer, oder andere Elemente zur Ursubstanz zu erklären. Es könnte scheinen, als ob die Griechen der damaligen Zeit eine Art naiven Realismus als Grundlage ihrer impliziten Erkenntnistheorie genommen hätten. Das "Seiende" des Parmenides und einige Aussagen des Heraklit weisen darauf hin. Allerdings muß hier, wie bei allen Deutungsversuchen der vorplatonischen Zeit, sehr darauf geachtet werden, daß wir nicht unsere heutigen Denkkategorien den damaligen Begriffen aufzwingen. Daher auch die oben genannte Differenzierung der griechischen Sprache. Wenn Heraklit sagt: "Feuer ist vernunftbegabt" so hatte er sicher keine naive Vorstellung von dem Herdfeuer als intelligent, sondern er bezog sich auf eine Tradition von mindestens einer Million Jahren in der Archae des Menschengeschlechtes, während der das Feuer das wesentliche Kultobjekt war. So gesehen, ist die Feueranbetung der Zoroastrischen Religion der letzte Überrest dieses ältesten Kultus der Menschheit. Das Feuer als quasi-autonomer Prozess, der sich aus seiner eigenen Dynamik ernährt, hat Eigenheiten, die es tatsächlich sehr in die Nähe von Intelligenz rücken.



[114]As far as I gather, project Perseus has collected the materials. Now one only needs to get them.
[115]Es gab, um das Übel voll zu machen, zwei Dionysiosse, von denen er schreibt. Ich fühle mich versucht, einmal die Geschichte von "Dion und seinem Ysios" zu schreiben. Denn dieses Rührstück is ohne Zweifel genau ein Versatz der uralten griechischen Spaltung des Dionysischen und Apollinischen. Wobei natürlich Plato der Vertreter des Apollinischen ist, und der Erzfeind des Dionysischen. Dies vor allem in seiner Geringschätzung alles Leiblichen, und, oh-Gott-bewahre, alles Geschlechtlichen. Und wenn schon geschlechtlich, dann nur mit der Araete, also mit Männern. Dann dient es wenigstens einem höheren Ziel. Plato jedenfalls mochte am liebsten den "Dion ohne seinem Ysios".
[116]ANM:HAPPY-END
Plato gibt uns selber die Antwort auf diese Frage, wenn auch indirekt.
Das Happy-End eines jeden Hollywood-Schinkens besteht darin, daß der Held seine dumme Pute dann endlich heiratet - womit der Film endet. Was sich jeder dazu denken kann, ist daß er dann sofort mit ihr daran geht, viele ebenso süße wie dumme Kinderchen zu zeugen, auf daß es da noch eine Generation von Helden und Heroinen gibt, die in diesen Filmen auftreten können. Und es muß immer genügend Leute geben, die sich solche Filme ansehen, damit sich die Anstrengungen der Filmproduzenten auch ausreichend rentieren - so daß dieses Helden- und Schurken-Spiel bis in alle Ewigkeit weitergespielt wird.
Timaios zeigt uns nicht das Ende, sondern wie alles anfing. Und wenn wir dann das Ende vom Anfang aufschlagen, finden wir allen andere als ein Happy End, nämlich die gar grausliche Mär, wie die Geschlechtlichkeit und die Frauen entstanden. Und nun muß man sich garnicht mehr wundern, warum die Heldinnen in den Hollywood-Schinken so dumm sind. Sie haben eben Timaios gelesen:

Darum ist auch bei den Männern die Natur der Geschlechtsteile ungehorsam und selbstherrlich geworden wie ein der Vernunft nicht gehorchendes Tier und versucht, durch ihre wütenden Begierden alles zu beherrschen. Aus eben denselben Gründen aber wird andererseits bei den Frauen das, was man Gebärmutter und Uterus nennt und was ein auf Kindererzeugung begieriges Lebewesen in ihnen ist, wenn es entgegen seiner Reife lange Zeit ohne Frucht bleibt, unwillig und nimmt es übel, irrt allenthalben im Körper umher, versperrt die Durchgänge der Atemluft, läßt das Atmen nicht zu, bringt die Frauen in äußerste Ratlosigkeit und führt zu mannigfachen Krankheiten, solange bis die Begierde und der Trieb der beiden Geschlechter sie zusammenbringen, gleichsam von den Bäumen die Frucht pflücken, in die Gebärmutter wie in Ackerland auf Grund ihrer Winzigkeit unsichtbare und ungestaltete Lebewesen aussäen und sie wieder gliedern, im Innern großziehen und hiernach ans Licht bringen und so die Erzeugung der Lebewesen vollenden. So sind also die Frauen und alles Weibliche entstanden.
[117]ANM:WIßBAR
Ein etwas simplistisches Beispiel soll hier zeigen, wie die Fokussierung auf Gewußtes und Wißbares unter gleichzeitiger Vernachlässigung des Nichtgewußten und nicht Wißbaren ein sehr schiefes Bild eines betrachteten Gegenstandes bilden kann:
Die Zeit von der vermuteten Entstehung der biologischen Spezies "homo xxx" vor ca. 2 Millionen Jahren bis zu etwa -7000, also die weitaus längste Periode der menschlichen Existenz auf diesem Planeten, war eine Periode reger menschlicher Aktivität und kulturellen Schaffens. 99% der kulturellen Schöpfungen der damaligen Menschen waren entweder in Form von Rhythmen, Gesängen, und Ritualen, Geschichten und Mythen, oder in Form von Gegenständen, die aus verwitterbarem Material gemacht worden waren: Holz, Pflanzenfasern, Fell, Leder, Federn. Weniger als 1 % der kulturellen Schöpfungen waren aus haltbarem Material, Stein gemacht. Weil aber nur diese steinernen Relikte zu uns herübergekommen sind, hat man dieses Zeitalter "Steinzeit" genannt, und in weiten Kreisen (und nicht nur bei den Laien) stellt man sich dieses Zeitalter als ein primitives vor, in dem die Menschen dumpf dahinvegetierten, und gegen deren Zustand sich unser heutiges technisches Zeitalter wie der Himmel auf Erden ausnehmen soll. Eine auch einigermaßen aufrichtige Beschäftigung mit einem Thema wie diesem muß immer mit dem Satz beginnen: "Wir können aufgrund der Umstände der Dokumentation nur 0,1% der damaligen Umstände bestenfalls nur grob und schemenhaft zu begreifen hoffen, und wir müssen daher eine Leerstelle einrichten, die wir in allen unseren Überlegungen sichtbar mitführen müssen, als sichtbares Zeichen, daß wir hier einen so riesigen Bereich haben, den wir nie werden wissen können."
[118]ANM:ZEIT
[n.B. bedeutet: nach Buddha. Also etwa 2. Jh. n. Chr. Siehe auch die folgende Anmerkung.]
119ANM:DATIERUNG
Wir nehmen uns hier eine gewisse kreative Freiheit in der Datierung. Die Wissenschaft ist sich insbesondere in der Datierung der Östlichen Meister keineswegs einig. Buddha ist auch bis in die Zeit von -300 zu datieren. (BIB:BECHERT82) Bei Zarathustra gehen die Datierungen bis auf -1200. Dies würde ihn damit umso sicherer als den originalen Urheber des Dualismus feststellen. Ebenso variabel ist die Gestalt und die Datierung des Lao Tsu. Auch seine Existenz als historische Person ist keinesfalls erwiesen. Wenn man sich auf geschichtliche Tatsachen zurückziehen will, so ist vermutlich die wichtigste die Gründung des persischen Reiches und die Einrichtung der Seidenstraße, die als völlig überpersönliches kulturelles Medium die östlichen und westlichen Kulturen verbunden hat.

Die Idee von Fokusperioden, in denen globale Entwicklungen offenbar gehäuft auftreten, wurde nach Jaspers auch als Achsenzeit bezeichnet. Wie fast alles in der Geschichte, ist auch eine solche Bezeichnung abhängig von der Optik des Betrachters. Da aber im alten Griechenland der geschichtliche Mensch sozusagen "erfunden" wurde, kann man hier vielleicht mit größerer Berechtigung von einem Fokus der Geschichte sprechen als in anderen Perioden.

Ein weiterer zu bemerkender Punkt ist die Notation der Datierung vor unserer Zeitrechnung. Ich habe die mathematische Notation mit negativen Zahlen anstelle der historisch üblichen Notation mit dem Kürzel "v.Chr." aus folgenden Gründen gewählt: Erstens, weil ich die Nullpunktsetzung für verfehlt halte. Der buddhistische Kalender, der bei ca. -500 ansetzt, reflektiert paradoxerweise wesentlich besser den Beginn der europäischen Geschichte (und damit der Kultur, die die Geschichte erfunden hat), weil hier eben die Leute lebten, mit denen das westliche Denken begann, wie ich oben ausführe. Zweitens: Es ist verfehlt, die historische Datierung anhand von Personen machen zu wollen, deren Wirken hauptsächlich mythischen Charakter hat. Das betrifft sowohl den Buddha, als auch Issa ben Jussuf, den sie den Chrestos nannten. Man kann sogar sagen, daß das größte Hindernis einer wirklichen Geschichtlichkeit diese Fiktion des "v.Chr" und "n.Chr." ist, da hier mit aller Gewalt versucht wird, einem Mythos geschichtliche Existenz anzudichten. Man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und dem Mythos, was des Mythos ist.
[120]ANM:EPOCHE
Whitehead sagt in "Modes of Thought", p. 65:
There is reason to believe that human genius reached its culmination in the twelve hundred years preceding and including the initiation of the Christian Epoch... Of course, since then, there has been progress in knowledge and technique. But it has been along the path laid down by the activities of that golden age. The history of Europe during the past eighteen hundred years is the sequel.
[121]ANM:SCHRIFT
Das arische Indien verlor die Schreibkunst, und erlernte sie erst tausend Jahre später wieder. Es bestehen starke Parallelen zu den dorischen Invasionen, dem griechischen "dunklen Zeitalter" von -1200 bis -900, das auch von dem Verlust des kretisch/minoischen Linear-A/B Schriftsystems begleitet war, und sich erst einige Jahrhunderte später durch Übernahme des phönizischen Aleph-Beth Systems wieder in eine Schriftkultur entwickelte.
[122]ANM:VEDA
Die Inder haben eine für uns moderne Europäer, deren Hirn von Druckerschwärze verfinstert ist, unbegreifliche Fähigkeit ausgebildet, ungeheure Textmassen gedächtnismäßig zu überliefern... ganze Bibliotheken uralter heiliger Texte sind durch die gedächtnismäßige Überlieferung wort- silben- und lautgetreu, sogar im Akzent der einzelnen Silbe genau, durch die Jahrtausende zäh bewahrt. Heute stirbt diese Tradition aus!

Nicht in Stein gemeißelt haben die arischen Inder ihre Geisteswerke, sondern, was länger dauert als verwitternder Stein, in die Gehirne von hundert nachfolgenden Generationen...
BIB:VEDA-LOMMEL, 26,27

Die wichtigsten Werke dieser Überlieferung sind die Veden ab ca. -1200: Rg Veda, Sama Veda, Atharva Veda, Yajur Veda, dann die Brahmanas und die Upanishaden ab -800 bis -500. "Veda" heißt "Wissen". Der Veda war das Wissen der vedischen Kultur. Diese Tradition wurde trotz der Möglichkeit, sie in der Devanagari-Schrift festzuhalten von den Brahmanen bis zum heutigen Tag mündlich überliefert. All diese Hunderttausende von Verszeilen "lebten" in den Geistern dieser Gelehrten. Leider haben wir das zweifelhafte Privilieg, das Aussterben auch dieser Tradition heute mitzuerleben. So notwendig auch die Abschaffung der Privilegien der Brahmanen im Kastensystem nach gesellschaftlichen Kriterien auch war: Es entzog den Brahmanen die ökonomische Basis, auf der sich diese Kaste allein dem Studium dieser (und anderer) Überlieferungen widmen konnte, und ihre Söhne von Kindesbeinen (ab ca. 5 Jahre aufwärts) exklusiv auf die Übermittlung dieser Informationen hin trainieren konnte. In einem modernen Schulsystem, wie es von den Engländern eingeführt wurde, ist das nicht mehr möglich.

Der Rg Veda ist das älteste Literaturdenkmal in einer indogermanischen Sprache. Er ist in einer prä-grammatischen Form des Sanskrit verfaßt, die noch so viele Ähnlichkeiten mit der alten arischen Sprache der Perser im Awesta, aufweist, so daß man sie als zwei Dialekte derselben Sprache erkennen kann. Man kann es auch anders darstellen: Sanskrit ist aus dem Rg Veda entstanden, und man muß erst den Rg Veda verstehen, bevor man Sanskrit verstehen kann. Die epische Struktur der Veden arbeitet außer-mental, oder über-mental.

Die Lyrik... stellt dies nicht dar und erklärt es nicht, es steht überall als Ganzheit dahinter und ist unzerlegbar in einzelne Aussagen...
BIB:VEDA-LOMMEL, p. 30

Über die brahmanische Theokratie gibt es noch folgendes Zitat:

... it was not in the interest of the Rishis to help forward the progress of speculative thought in its advance towards philosophy; but rather to hedge their own religious conceptions with a wall of sancticity, and to bring within this compass the wandering fancies of the people... Extraneous thought and criticism was to them a source of danger, they sought, therefore, to obscure the doctrines of their theology by a multiplication of complicated allusions and dark riddles, with which they might occupy the minds of their hearers...
BIB:VEDA-WALLIS, p. 6
[123]ANM:NULL
Die Diffusion der arabischen Ziffern (arab: sifr=die Leere) von Indien nach Europa ist eine Abenteuergeschichte für sich: Sie wurden ca. +600 erfunden, gelangten dann noch vor der islamischen Eroberung nach Syrien, wurden von den Christen aber nicht angenommen (vermutlich, weil in der Bibel nichts von Ziffern stand) und erst einmal von den Arabern nutzbringend eingesetzt. Die Null war zur Zeit noch nicht erfunden worden, das geschah erst ca. 800. Die Araber übernahmen sie aber so schnell, wie sie in Indien erfunden wurde. Gerbert von Aurillac (der spätere Papst Sylvester II) gebrauchte als einer der ersten im Abendland die arabischen "siffres", aber ohne die Null. Er handelte sich damit den Ruch eines Ketzers ein. Als Papst konnte man ihn nur schlecht verbrennen. Erst gegen 1200 wurde dann das heutige mathematischen Stellenwertsystem mit der Null in Europa bekannt.
[124]ANM:EXKLUSIV
Jede Kultur hatte ihren Exklusivitätsanspruch. Die Juden betrachteten sich als das auserwählte Volk, weil sie den exklusiven Bund mit ihren Gott geschlossen hatten, und die Griechen betrachteten sich wegen ihrer Sprache als auserwählt. Der ganze Rest der Welt waren nur Barbaren, Leute die nur unsinniges Zeug redeten.
[125]ANM:SEIENDES
Wie oben schon angedeutet, ist das Seiende eine linguistische Kategorie. Es existiert nur in dem Universum der Sprache. Dieses Universum ist aber nur mehr oder weniger mit dem erlebbaren Universum der Erde, des Wassers, der Winde, und der Sonne und Sterne in Übereinstimmung zu bringen, egal sehr uns die Naturwissenschaft von einer Identität zu überzeugen versucht. Dies ist nämlich eine völlig unbegründbare (metaphysische) Grundannahme. Und davon ausgehend, kann man es nicht mehr deduzierend beweisen. Das ist der Grundfehler aller naturwissenschaftlichen Ontologien.
[126]ANM:BEWUSST
Die Alternative ist also klar zwischen Bewußt und Sein. Das Wort Bewußtsein ist eine Chimäre, ebenso wie das Werden. Bewußt ist der Gegenpol von Sein. Daher wird in der Sprache des Kenomén auch der Begriff Men verwendet (s.a. ANM:MEN).
[127]ANM:ARISTOTELES
In Metaphysik Buch 7 behandelt Aristoteles die Aspekte des Seienden genauer. Die Begriffe "ousia" und "to ti en einai" sind hierbei von Relevanz.
[128]ANM:EINFLUSS
Die Frage der wechselseitigen Einflüsse der griechischen und indischen Philosophie ist lange diskutiert worden. Es ist allerdings völlig fruchtlos, dies allein auf Basis der überlieferten schriftlichen Zeugnisse tun zu wollen. Da man damals kein Copyright System hatte, zitierte kein Schriftsteller, außer in Ausnahmefällen, namentlich von wem er seine Gedanken übernommen hatte. Plato machte in seinen Schriften genauso bedenkenlos einen Neuaufguß aller seiner Vorgängerphilosophen, wie auch Aristoteles, der sie nur erwähnt, wenn er einmal etwas unfreundliches über sie zu sagen hat. Da die Zahl der lesbaren Bücher ohnehin überschaubar war, wußte sowieso jeder der gebildeten Leser oder Zuhörer, von wem die Idee stammte, die der jeweilige Philosoph dann vortrug.
Wie schon erwähnt, gab es sogar zu den Zeiten der sumerischen Kulturen, also um -3000 bis -2000 schon rege Kontakte zwischen dem dravidischen Indien und der orientalischen Welt. Dieser Kontakt wurde durch das Perserreich dann wieder aufgenommen, und nahm nach den alexandrinischen Feldzügen noch zu. Er riß das ganze Altertum hindurch nicht mehr ab. Um die Zeitenwende verkehrten jährlich 120 Schiffe zwischen dem römischen Imperium und Indien. Ganze Landstriche in Südindien wie Madras lebten vom Handel mit dem römischen Imperium. Als der Neoplatonist Julian Apostata zum Kaiser aufstieg, besuchten ihn viele indische Delegationen, aus so weit entfernten Gebieten wie Ceylon und von den Malediven. Die Pali-Schrift "Questions of Milinda" sollen ein Dialog mit Menander gewesen sein, dem König eines griechischen Territoriums in Indien um ca. -100. (BIB:PLAT-INDIA, p. 10-18)
Plotin hatte am Feldzug des Gordian gegen die Perser teilgenommen, vernehmlich, um mit ihm bis nach Asien zu gehen, und so die indischen Philosophen und Gymnosophisten kennenzulernen. Gordian war aber nicht Alexander und wurde schon zu Beginn des Feldzuges vernichtend geschlagen und ermordet. Plotin konnte nur mit knapper Not sein Leben retten.
Ich habe selber bei einem Besuch in Bangkok eine Buddhastatue gesehen, die im schönsten hellenistischen Stil gefertigt war, mit griechischem Faltenmantel und griechischen Gesichtzügen und allem (Ghandarva-Stil). Wenn nun eine Buddhastatue im griechischen Stil nicht nur in Indien sondern noch einmal 2000 km weiter östlich, in Thailand zu finden ist, gibt es wohl keinen schlagenderen Beweis dafür, daß zu den damaligen Zeiten sehr intensive kulturelle Kontakte bestanden haben. Eine hellenistische Buddhastatue beweist eine gegenseitige Durchdringung östlicher und westlicher Denksysteme besser als 1000 Seiten gelehrte Schriften. Der über Jahrtausende bewahrte Stilkanon der Buddhastatuen ist nämlich identisch mit dem der antiken griechischen Plastiken: Die Verkörperung des agathon im Bilde des Menschen. Die Buddhastatuen sind sichtbare und jedem, auch den Ungebildeten und Analphabeten, greifbare Zeugnisse des agathon. Wer diesen Kanon kennt, versteht in allen Kulturen und zu allen Zeiten diejenigen, die sich mit diesem Kanon ausdrücken. Es hatte also kaum einer Reise Plotins nach Indien bedurft.
[129]ANM:KULTUR-TOD
Die Historiker haben sich lange und intensiv darüber gestritten, warum Kulturen untergehen, so z.B. das große Werk von Spengler "Der Untergang des Abendlandes". Meine Erklärung für den Untergang der Kulturen ist diese: Eine Kultur tendiert dazu, ein semantisches Universum zu errichten, das im Verlaufe der Reifung der Kultur immer komplexer (barocker, byzantinischer, aztekischer, oder brahmanischer) wird. In den alten Kulturen waren es die Priesterschaften, die dieses Wissen im Gedächtnis hielten. Natürlich mußten all die Priester, die ihr ganzes Leben darauf verwandten, dieses Wissen zu erlernen, zu erhalten, anzuwenden, und zu tradieren, auch irgendwie ernährt werden. Also wurde ein immer größerer Anteil der ökonomischen Energie einer Kultur in den Unterhalt der Priesterschaften kanalisiert. Heute sind es nicht die Priester, sondern die Beamten, Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, und Wissenschaftler unserer Gesellschaft, die die Hauptmasse der Produktivkräfte der Gemeinschaft für sich aufbrauchen, nur um den ungeheuren Wust der Gesetzeswerke und wissenschaftlichen Daten irgendwie zu handhaben. Jede Generation von Priestern (oder Ärzte und Wissenschaftler) produziert aber immer noch mehr Gesetzestexte, Vorschriften, und Wissensdaten, so daß die Last des zu Lernenden und Anzuwendenden immer größer wird. Solange, bis das System unter seiner eigenen selbstgeschaffenen Entropie zusammenbricht. Früher warteten natürlich immer die Steppenvölker in den Randgebieten der Imperien: Die Indo-Arier, die Perser, die Germanen, die Mongolen. Heute gibt es keine unerschlossenen Steppenvölker mehr, heute kommt der Zusammenbruch von innen.
[130]ANM:RELATIV
Der russische Indologe Stcherbatsky hat Shunyata konsistent mit Relativität übersetzt. Siehe: BIB:BUDDH-STCH

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