Seit ca. 50 Jahren hat ein neues Element seinen Eingang in die menschliche Kultur gefunden: Der Computer. In diesem Aufsatz soll der Computer unter dem Aspekt der Entwicklung der Schrift des Menschen und in seiner Bedeutung als ein neues Glied in der Evolution der Schrift betrachtet werden. Der vorliegende Text stellt eine Momentaufnahme einer fortlaufenden Arbeit dar. Die jetzige Fassung hat die vorherigen Fassungen teilweise erheblich redefiniert und überholt. Ebenso ist es wahrscheinlich, daß die nächsten Fassungen gleichfalls radikale Erweiterungen und Veränderungen der früheren Fassungen sein werden. Die Aussagen und Feststellungen in diesem Aufsatz entsprechen meinem augenblicklichen Informationsstand, der aufgrund der vielen berührten Wissensgebiete stellenweise spekulativ, manchmal einseitig, oder vielleicht auch von der betreffenden Lokalwissenschaft nicht akzeptiert wird. In sofern kann ich nicht den Anspruch erheben, mit diesem Aufsatz eine wissenschaftliche Arbeit zu erstellen. Dies ist beim Lesen und bei eventuell aufkommender Kritik zu bedenken. In ihrem Kern geht diese Arbeit in die Wurzeln des logischen Denkens, und damit der Wissenschaften, und betritt damit auch notgedrungen Bereiche außerhalb des Feldes der Wissenschaft.
Die
vorliegende Arbeit ist im Projekt Leibniz entstanden. (Siehe auch:
Leibniz-Bibliographie: GOP91-I, GOP91-II, GOP91-III, GOP91- IV). Dieses Projekt
wird von mir seit ca. 14 Jahren bearbeitet. Ich habe es damals so genannt, weil
ich vermutete, daß Leibniz, bei dem ich damals die Ansätze dazu
gefunden habe, hier einer Spur folgte, die sehr, sehr alt ist. Man könnte
es das älteste kreative Projekt der Menschheit nennen: Die kontinuierliche
Selbst-Neuschöpfung der menschlichen Schrift, und mit ihr des menschlichen
Bewußtseins.
Die Barockzeit, also das 17. und beginnende 18. Jahrhundert, war die Zeit der
Grundlegung unserer heutigen Naturwissenschaft. Nachdem Galilei und Kepler zu
Anfang des 17. Jh. die konzeptuellen Grundlagen des neuen Weltbildes der
Naturwissenschaft gelegt hatten, gab Newton mit seinem Prinzip der Gravitation
diesem Bild die theoretischen Grundlagen (Principia 1687). Er und Leibniz
schufen unabhängig voneinander mit der Mathematik der
Infinitesimalrechnung die formal-symbolischen Grundlagen für die
Mathematik der Naturwissenschaften. Leibniz beschäftigte sich neben seiner
mathematischen und logischen Tätigkeit mit einer Vielzahl anderer
Wissensgebiete, und leistete überall wichtige Beiträge. Er wird
deshalb auch als der letzte Universalwissenschaftler der Menschheit bezeichnet.
Im hier gegebenen Zusammenhang ist besonders die Arbeit von Leibniz im Bereich
der logischen Sprachen wichtig. Leibniz verfolgte eine Vision: Die Vision der
universellen logischen Sprache der Menschheit. Im Zuge dieser Arbeiten
entdeckte er das Binär-Zahlensystem. (ºLEIB-BOUVET,
ºLEIB-VERJUS) Die mit Beginn des 17. Jahrhunderts einsetzende Entsendung
von jesuitischen Missionaren nach China und Japan bewirkte eine besondere
Stimulation der damaligen europäischen Geisteswelt. Sie brachte Europa
wieder mit der Welt des fernen Ostens in intensiven Kontakt. Dieser Kontakt war
fast 2000 Jahre früher, zur hellenistischen Zeit vielleicht am
intensivsten und fruchtbarsten gewesen. Damals herrschte reger Verkehr auf der
"Seidenstraße", dem alten Karawanenweg, der von China bis nach Kleinasien
und Palästina führte. Der Kontakt war nach dem Untergang Roms, der
Barbarisierung Europas im frühen Mittelalter und durch die
Schließung der Landwege nach Asien im Zuge der Islamisierung Vorderasiens
abgerissenen. Leibniz hatte an den neuen Entwicklungen regen Anteil, wie sein
Briefwechsel mit einigen der Missionare beweist. Im Kontakt mit China trat eine
Kultur ins Gesichtsfeld des europäischen Denkens, deren
Hauptartikulationsmedium, die chinesische Schrift, so grundlegend verschieden
von der europäischen phonetischen Schrift war, daß sie sofort
Anlaß für eine rege Spekulation bot. (Die Kenntnis der genauen
Struktur des Chinesischen war damals noch recht lückenhaft und
spekulativ). "... die chinesischen Schriftzeichen sind womöglich
philosophischer und scheinen auf intellektuelleren Erwägungen zu beruhen,
nämlich Zahlen, Ordnung und Relationen herstellende..." (LEIB-BOUV 1703)
Die
chinesische Schrift bot für Leibniz weitere Inspirationen, sein Projekt
der Characteristica Universalis zu formulieren. Dies war der Name für
seine Vision einer neuen logischen Ausdrucksform der Menschheit, einer
philosophischen Sprache: "Eine solch allgemeine Berechnung ergäbe
gleichzeitig eine Art Universalschrift, die den Vorteil der chinesischen
besäße, weil jeder sie in seiner eigenen Sprache verstünde, die
aber die chinesische noch unendlich weit dadurch überträfe, daß
man sie in wenigen Wochen lernen könnte, hätte man doch
gemäß der Ordnung und Verknüpfung der Dinge wohlverbundene
Zeichen, während die Chinesen mit ihren nach der Mannigfaltigkeit der
Dinge unendlich vielen Zeichen ein Menschenleben lang brauchen, um ihre Schrift
ausreichend zu erlernen." Siehe auch: LEIB-GER, LEIB-MERK, DAVID65. "Dies ist
das Hauptziel jener großen Wissenschaft, die ich Charakteristik zu nennen
pflege, von der die Algebra, oder Analysis, nur einen sehr kleinen Zweig
darstellt; denn sie lehrt uns das Geheimnis, Vernunfturteile festzuhalten und
sie dazu zu bringen, gleichsam sichtbare Spuren auf dem Papier zu hinterlassen,
ohne viel Raum einzunehmen, und sie damit beliebig nachprüfbar zu
machen..." (LEIB-COUTURAT, p.98-99) "Unterdessen werden wir sie vortrefflich
dazu verwenden können, um uns dessen zu bedienen, was wir wissen, um sehen
zu können, was uns fehlt, und um die Mittel zu erfinden, es zu erlangen,
vor allem aber, um die Streitigkeiten in den Dingen auszuräumen, die vom
Vernunfturteil abhängen. Denn dann wird Urteilen und Rechnen dasselbe
sein." (LEIB-COUTURAT, p.27-28) Bei der Ausformulierung seines Ansatzes
stieß Leibniz schnell auf unüberwindliche Probleme, und das Projekt
verlor sich im Wirbel seiner weitläufigen philosophischen, mathematischen,
und politischen Aktivitäten. Ich sehe darin aber den Anknüpfungspunkt
für das Projekt Leibniz, wie ich es seit ca. 1978 wieder aufgegriffen und
definiert habe. Leibniz war einer der Mitbegründer der modernen
Wissenschaften, und befand sich damit am Anfang einer kulturellen Entwicklung
der Menschheit, von der 250 Jahre später der Linguist Benjamin Lee Whorf
sagt:
"Es bedarf heute keines tiefdringenden Blickes mehr, um zu sehen, daß die
Naturwissenschaft, die Große Offenbarung der modernen westlichen Kultur,
ohne ihren Willen in eine ganz neue Kampffront geraten ist. Sie muß nun
... in eine Landschaft vordringen, die zunehmend fremdartiger wird und mit
Dingen angefüllt ist, die einem kulturbefangenen Verstand
anstößig sind, oder sie wird, nach einem treffenden Wort Claude
Houghtons, zum Plagiator ihrer eignen Vergangenheit werden. Im Grunde wurde die
neue Front schon in sehr alter Zeit vorausgeahnt. Man gab ihr damals einen
Namen, der uns in einer Wolke von Mythen überliefert ist: Babel."
(WHORF63, p. 46) und weiter: "Was wir 'wissenschaftliches Denken' nennen, ist
eine spezielle Entwicklung des westlichen indoeuropäischen Sprachtypus,
der nicht nur eine Reihe verschiedener Dialektiken, sondern auch eine Menge
verschiedener Dialekte oder Fachsprachen entwickelt hat. DIESE FACHSPRACHEN
WERDEN SICH HEUTE GEGENSEITIG UNVERSTÄNDLICH" und weiter:
"Die genannten Widerstände isolieren nicht nur künstlich die
einzelnen Wissenschaften gegeneinander, sie hindern auch die wissenschaftliche
Forschung im ganzen daran, den nächsten Schritt ihrer Entwicklung zu tun.
Dieser Schritt verlang ganz neue Gesichtspunkte und eine vollständige
Loslösung von gewissen Traditionen. Denn bestimmte linguistische
Strukturen, die in den Fachsprachen der Wissenschaften verhärteten, die
oft auch in den Mutterboden der europäischen Kultur eingebettet sind, aus
dem jene Wissenschaften hervorgingen, und die lange als reine Vernunft per se
angebetet wurden, sind zu Tode geritten worden." (p. 47) Leibniz stand am
Anfang dieser Entwicklung und seine Arbeiten zur Characteristica Universalis
zeigen, daß er den Gang der Entwicklung bis zur heutigen Situation
vorausgeahnt haben mag. Er versuchte jedenfalls, dieser Konsequenz
entgegenzuwirken. Leider vergeblich.
Wieso nehme ich heute diese Spur wieder auf, die Leibniz dort gelegt hat? Welchen Anlaß kann uns die heutige Zeit bieten, dieses phantastische Projekt von Leibniz wieder aufzugreifen? Die Antwort lautet natürlich: Der Computer. Ich muß dazu aber einiges an Klärung bieten, denn ich meine mit "Computer" in Wirklichkeit einen speziellen Aspekt dieser uns heute verfügbaren Technologie. Wie bei allen neuen Entwicklungen muß auch die Computertechnologie durch eine gewisse Wachstums- und Reifephase gehen, damit die Eigenschaften und die kulturelle Relevanz dieser Erscheinung erkannt und im richtigen Kontext bewertet werden können. Ich sehe die Computertechnologie als eine konsequente Fortsetzung der Evolution der menschlichen Schriftsprachen, deren letzter "großer Sprung" vor ca. 3000 Jahren die Entwicklung der phonetischen Schriftsprachen durch die Phönizier und ihre Weiterentwicklung durch die Griechen war. Diese Entwicklung leitete ein ganzes Zeitalter des Denkens und der Logik ein. Ich möchte hier die spekulative Ansicht äußern, daß diese heutige Computertechnologie für die Kultur der Menschheit ebenfalls einen "Großen Sprung" darstellt, der an Bedeutung nur mit diesem letzten Sprung verglichen werden kann, und ihn womöglich noch weit übertreffen wird. Im Zuge dieses Sprungs wird das kulturelle Schaffen der Menschheit eine fundamentale Revolution erfahren, was auch die Struktur der Wissenschaften unbedingt mit einschließt. Die jetzigen Entwicklungen werden ein neues Zeitalter dessen einleiten, was man früher den "Logos" nannte, und dessen neue Bezeichnung vielleicht eine ganz andere Charakteristik haben wird.
Besser
als irgendein anderes Zitat chararakterisiert der Anfang des
Johannes-Evangeliums dieses vergangene Zeitalter des menschlichen
Bewußtseins. In diesem Bewußtsein war "Logos" der Kernbegriff
dessen, was das menschliche Denken ausmacht. Dieser Kernbegriff bezeichnete das
gesprochene Wort, und dann die Idee, die mit diesem gesprochenen Wort verbunden
ist. Die griechische Philosophie basierte auf dem Logos, die Schrift war nur
ein Sekundäres Element, geeignet, das Gedächtnis zu stützen, und
nichts mehr. Die griechische Philosophie hat zwar den Primat des Logos
aufgestellt. Aber sollte es völlig ohne Zusammenhang sein, daß
gerade diese griechische Philosophie genau zu dem Zeitpunkt anfing, als mit der
alphabetischen Schriftsprache die Voraussetzung der Exteriorisierung des
menschlichen Gedankens (des Logos) gegeben war?
(Exteriorisierung: Fixierung auf ein vom menschlichen Träger und
Aktivator unabhängiges Medium) Die Entdeckung der Spur: Derrida und die
Grammatologie
Der französische Philosoph Derrida hat eine neue Betrachtungsweise
für dieses Zentralproblem der Philosophie gefunden. Er hat die These
aufgestellt, daß diese Bevorzugung des gesprochenen Wortes tiefgreifende
Auswirkungen auf die Denkweise des Abendlandes gehabt hat, und die Wissenschaft
entscheidend, und einseitig, geprägt hat. Die folgenden Zitate stammen aus
dem Buch von Derrida: Grammatologie. (DERRIDA74)
Derrida
ist, wie diejenigen wissen, die seine Werke kennen, ein radikaler Denker. Man
könnte auch sagen: Er ist ein Denker des Undenkbaren. Das Kernprinzip
seiner Überlegungen ist die Spur, oder ein anderer, verwandter Begriff:
Die Differance. Derrida hat diesen Begriff mit Absicht von dem
französischen Wort Difference syntaktisch abgegrenzt. Er sagt: "Die
(reine) Spur ist die Differance. Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren,
hörbaren, oder sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle
abhängig, sondern ist im Gegenteil deren Bedingung. Obwohl sie nicht
existiert, obwohl sie niemals ein Anwesend-Seiendes außerhalb jeder
Fülle ist, geht ihre Möglichkeit all dem zu Recht voran, was man
Zeichen (Signifikat/Signifikant, Inhalt/Ausdruck usw.), Begriff oder Operation,
motorisch oder sinnlich nennt. Diese Differance ist also so wenig sensibel wie
intelligibel und erlaubt die Verknüpfung von Zeichen untereinander im
Inneren einer nämlichen abstrakten Ordnung - eines lautlichen oder
graphischen Textes zum Beispiel ..." (p. 109) Das Konzept der Differance steht
in seiner Fundierung noch vorher, damit auch außerhalb des
Wirkungsbereichs der konventionellen Wissenschaften:
"Es kann keine Wissenschaft von der operierenden Differance selbst geben, so
wenig wie es eine Wissenschaft vom Ursprung der Präsenz selbst, das
heißt von einem bestimmten Nicht-Ursprung, geben kann." (p. 110)
"Somit erweist sich die Differance als die Formation der Form. Aber sie ist
andererseits das Eingedrückt-Sein des Abdrucks (empreinte)." (p. 110)
Derrida bringt als Beispiel den Unterschied zwischen einem Lautbild (wie es von
einem Menschen wahrgenommen wird), und dem gegenständlichen Laut (wie er
von einem Tonbandgerät aufgezeichnet werden kann):
"Das Lautbild ist die Struktur des Erscheinens eines Lautes, was alles andere
ist als der erscheinende Laut... Das Lautbild ist das Vernommene: nicht der
vernommene Laut, sondern das Vernommen-Sein des Lautes. Das Vernommen-Sein ist
seiner Struktur nach phänomenal und gehört einer Ordnung an, die von
der Ordnung des wirklichen Lautes in der Welt vollständig verschieden
ist." (p. 110-111) Derrida verwendet in den vorhergehenden Sätzen die
Sprechweise der Phänomenologie Husserls. Diese Phänomenologie kann
als die philosophische Ergründung der vom Menschen subjektiv
wahrgenommenen Phänomene bezeichnet werden. Sie ist damit sehr verschieden
von der Erforschung der physikalisch meßbaren (objektiven) Ereignisse,
die das Gebiet der heutigen (Natur-) Wissenschaften darstellt.
Derrida legt auf den Seiten 111 bis 113 gleichwohl dar, daß die
Differance NICHT dem psychischen Innenbereich angehört. Sie ist vielmehr
als etwas anzusehen, das VOR der Unterscheidung zwischen Innen und Außen,
zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Welt und Seele vorhanden ist.
"Da die Schrift das Subjekt konstituiert und zugleich disloziert, ist die
Schrift etwas anderes als das Subjekt, wie immer man dieses auch verstehen mag.
Sie wird niemals unter der Kategorie des Subjekts zu fassen sein." (p. 119)
In gewisser Weise konstruiert er damit einen Spalt im Weltbild der klassischen
Philosophie, der zwischen der objektiven Welt der Physik und der subjektiven
Welt des Erlebten sich auftut. Daß hier ein Zwischenraum ist, ein Etwas,
das nicht nur als Lücke zwischen zwei bestehenden existierenden
Gegebenheiten vorhanden ist, sondern daß es diese zwei Gegebenheiten als
Sekundär-Erscheinungen von sich ableitet, ist der Kern der Aussage.
"Es gilt ... zu erkennen, daß die Differenzen im spezifischen Bereich
jenes Eindrucks und jener Spur ... hier zwischen den Elementen in Erscheinung
treten, besser noch, sie produzieren, sie als solche an die Oberfläche
dringen lassen und Texte, Ketten und Systeme von Spuren konstituieren. Die
unerhörte Differenz zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen
(zwischen der "Welt" und dem "Erlebten") ist die Bedingung für alle
anderen Differenzen, alle anderen Spuren, sie selbst ist schon eine Spur." (p.
113)
"In
Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was
aber bedeutet, um es noch einmal zu betonen, daß es einen absoluten
Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die Differance, in
welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen. Als Artikulation
des Lebendigen am Nicht-Lebendigen schlechthin, als Ursprung aller
Wiederholung, als Ursprung der Idealität ist die Spur so wenig ideal wie
reell, intelligibel wie sinnlich, und so wenig transparente Bedeutung wie opake
Energie; kein Begriff der Metaphysik kann sie beschreiben... Wie könnte es
dann noch sinnvoll sein, eine "natürliche" Hierarchie zwischen dem
akustischen Eindruck und dem visuellen (graphischen) Eindruck zu errichten? ...
Unerhört bleibt die Differenz zwischen den erfüllten Einheiten der
Stimme. Und unsichtbar auch die Differenz im Korpus der Inschrift." (p. 114)
Dies dürfte wohl der Kernsatz von Derridas Werk "Grammatologie" sein. Die
- so weit mögliche - sprachliche Annäherung an das Wesen dessen, das
hinter und unter der Sprache liegt, das Sprache und Schrift begründet,
über das daher weder in Schrift noch in Sprache gesprochen werden kann.
Das, über das Wittgenstein seinen berühmten Ausspruch tat: "Wovon man
nicht reden kann, darüber sollte man schweigen."
Für diesen Bereich hatten alle Philosophen, die sich zuvor mit dem Thema
befaßten, nur eine Umschreibung: Sie nannten es "Gott" und übergaben
ihn der Theologie. Derrida hat hier einen Vorstoß gemacht, das, was mit
den Mitteln der heutigen Begrifflichkeit deshalb nicht faßbar ist, weil
es etwas ist, das die Begrifflichkeit selber begründet, in irgendeiner
Weise anzugehen. Er setzt damit die Arbeit Hegels fort, der seine Dialektik
für diesen Zweck geschaffen hatte.
Sein Ansatz ist deshalb so radikal, weil er alles, was sowohl im normalen
"gesunden Menschenverstand" als auch in der Grundlage der Wissenschaft als
gegeben angenommen wird, hinterfragt, und es "dekonstruiert", wie er dies
nennt. "Als Ursprung der Erfahrung des Raumes und der Zeit macht es die
Schrift, das Gewebe der Spur, möglich, daß sich die Differenz
zwischen Raum und Zeit artikuliert und als solche in der Einheit einer
Erfahrung (eines "gleichen" Gelebten, ausgehend von einem "gleichen" Leib)
erscheint." (p. 114-115) "Ohne die Differenz zwischen dem erscheinenden
Sinnlichen und seinem erlebten Erscheinen (dem "psychischen Eindruck")
könnte die temporalisierende Synthese, die das Auftreten von Differenzen
in einer Kette von Bedeutungen erlaubt, unmöglich wirksam werden." (p.
115)
Und genau hier liegt der Ursprung, also die Ableitung des Logos, das, was das
Kernprinzip der klassischen Philosophie darstellt:
"Daß der Logos vor allem Abdruck und daß dieser Abdruck die
schriftliche Quelle der Sprache ist, bedeutet, daß er nicht eine
schöpferische Aktivität, das kontinuierliche und erfüllte
Element des göttlichen Wortes usw. sein kann." (p. 118)
"Wenn die Spur - Urphänomen des "Gedächtnisses", welches vor dem
Gegensatz zwischen Natur und Kultur, Animalität und Humanität usw.
gedacht werden muß - zur Bewegung der Bedeutung selbst gehört, so
ist sie a priori eine geschriebene Spur, gleichgültig, ob sie in der einen
oder anderen Form in ein "sinnliches" und "räumliches",
"äußerlich" genanntes Element eingeschrieben wird. Diese Spur,
Urschrift, ursprüngliche Möglichkeit des gesprochenen Wortes, dann
"Schrift" im engeren Sinn, ... diese Spur ist die Eröffnung der
ursprünglichen Äußerlichkeit schlechthin, das rätselhafte
Verhältnis des Lebendigen zu seinem Anderen und eines Innen zu einem
Außen." (p. 123-124)
Nach diesen Ausführungen, die die Existenz eines neuen Terrains anzeigen,
käme die praktische Frage: Welche Bewandtnis kann eine solche Thematik
außerhalb der reinen Philosophie haben?
Es
geht hier um eine neue Sichtweise der Computer- Technologie im Lichte der
Evolution des Bewußtseins. Solange das Denken auf den Primat des Logos
festgelegt ist, kann keine adäquate Betrachtung, damit Behandlung und
Bewertung der Computer- Technologie erfolgen. Dies ist die grundsätzliche
Nutzanwendung der Derridaschen Thesen. Formalsysteme, die im Computer aktiviert
werden, sind als menschliche Kultur-Äußerung kaum als Sprache, aber
viel eher als Schrift zu bezeichnen. Wenn man aber den Gedankengang von Derrida
weiterverfolgt, dann eröffnet sich uns ein tieferes Verständnis von
dem, was er die Spur nennt, Ausblicke auf die neuen Dimensionen der
menschlichen und erstmals, außermenschlichen Kultur, die hier
zugänglich werden.
Dies soll hier, und in den folgenden Versionen weiter verfolgt werden. In der
augenblicklichen Version kann der Gedanke nur angerissen werden. Er stellt ein
Paradigma dar, ein Leitmotiv, unter dem die weitere Arbeit fortgeführt
werden wird.
So, wie zitiert, und wahrscheinlich auch so, wie von Derrida in seinen
Schriften formuliert, werden seine Gedanken vielleicht nicht sehr vielen
Menschen greifbar und verständlich werden. Es ist nötig, die
Beispiele zu zeigen, die sich unter Anwendung seiner Erkenntnisse vielleicht
besser und allgemeiner formulieren lassen. Und hier ist der Computer-Bereich
wieder das geeignete Feld.
Die These, die ich dazu aufstelle, ist die, daß die Computer seit ca. 40
Jahren schon eine sehr radikale Bewußtseins- Veränderung der
Menschheit bewirkt haben, und daß also die radikalsten Gedanken von
Derrida schon in voller Blüte unter den Menschen wirksam sind. Um es in
anderen Worten zu sagen: Die Spur ist schon lange dabei, ihre eigenen neuen
Bahnen zu legen. Nur: Wir haben noch nichts davon gemerkt. Die arkane
Sub-Kultur der Systemprogrammierer
Verständlicherweise ist dies noch nicht bis auf die Ebene der Normalkultur
durchgedrungen: Gedankenkonstrukte dieser Art sind z.B. noch das mehr oder
weniger arkane Handwerkszeug der Systemprogrammierer und Computer-Cracks. Man
arbeitet in der systemnahen Assembler-Programmierung zuweilen mit Tricks und
Kniffen, die aus drei Gründen auch kaum Eingang in die Welt der
akademischen Informatik gefunden haben. Polykontexturale Programmierung
Der erste Grund ist, daß diese Konstrukte allen Regeln der sauberen,
strukturierten und wohlgeformten Programmierung nicht nur widersprechen,
sondern, wie man auf englisch sagen würde: "They fly right in the face of
it." Man könnte sie auch als "informatische Obszönitäten"
bezeichnen, oder wie Weizenbaum es einmal treffend nannte: "inzestuöse
Programmierung". Der Grund für diesen Abscheu ist, wenn man es aus der
Warte von Derrida sieht, sehr klar: Der "gesunde Menschenverstand" weigert sich
strikt, solche Konstrukte zu denken, anzusehen, oder sonstwie zur Kenntnis zu
nehmen. Solche Konstrukte sind "monströs". Der Programmierer-Underground
weiß von solchen Möglichkeiten. Siehe: "Real Programmers don't Use
Pascal". Mit den heute gebräuchlichen Programmiersprachen ist es schwer,
auf diese Weise zu programmieren. In Assembler ist es möglich, eine
Speicherstelle, oder, was öfter gemacht wird, ein Register, zu
verschiedenen Zeiten des Programmlaufs, in anderen Kontexten, auf völlig
verschiedene Weise zu gebrauchen. Dies kann man in der Sprechweise von Gotthard
Günther auch "polykontexturale Programmierung" nennen. Der Betrachter des
statischen Codes hat sehr wenig Möglichkeiten, die Absichten des
Programmierers zu erfahren, wenn er nicht den Programmlauf im Debugger
"durch-steppen" möchte, was bei der potentiell nahe unendlichen Zahl der
Programmzustände auch kaum praktisch ist.
Der Stoff, aus dem die Milliarden sind
Der zweite Grund ist schlicht, daß es sich hier um Betriebsgeheimnisse
handelt, die man natürlich nicht an die große Glocke hängt,
weil man eben mit diesem oder jenem speziellen Assembler-Trick ein paar
Mikrosekunden gewinnt. Diese Mikrosekunden sind aber der Stoff, aus dem
Millionen (oder Milliarden) gemacht werden. Ein inzwischen etwas bekannter
gewordenes Beispiel ist die Methode, mit der Andreas von Bechtolsheim sein
SUN-Imperium begründete. Er konnte damals aus seinen 68000er Boards durch
eine geschickte Plazierung des RAS/CAS Memory Access Zyklus ein paar
Nanosekunden heraus- schinden, die seine Maschinen um einen entscheidenen
Faktor gegenüber der Konkurrenz schneller machten. Der Rest ist
Geschichte.
Ein anderes, ebenfalls schon etwas bekannteres Beispiel, ist der ROM-Code des
Macintosh, ein Machwerk, das Insider als "das ausgeknautschteste Stück
Assembler-Code der Menschheits- Geschichte" bezeichnen. Es gab einen
Riesenaufstand, als vor ein paar Jahren Teile dieses Codes in den Mailboxen
erschienen. Nun, diese Top-Secrets von damals sind heute nicht mehr viel wert,
und die intellektuelle Meisterleistung, soviel Performance in das für
heutige Verhältnisse wirklich ärmliche ROM/68000er Gespann zu
zwingen, wird durch die Prozessorleistungen der RISC Computer nach der puren
brute-force Methode völlig ausgelöscht. Die eingebauten
Denk-Bremsen
Der dritte Grund ist noch schlichter: Die Leute, die mit diesen Konzepten so
selbstverständlich umgehen, haben aufgrund der ungeheuren Spezialisation
des Fachgebiets, und eines Effekts den man auch "Fachidiotie" nennt, keine
sprachliche Möglichkeit, ihr Wissen in eine Form umzusetzen, die es einer
breiteren Allgemeinheit verständlich machen könnte, wenn sie denn nun
selber wüßten, daß das, was sie da denken in irgendeiner Weise
etwas besonderes ist. Die Computer-Cracks sind oft in ihrer technischen "Denke"
festgefressen, und Philosophie gilt in Techno-Freak Kreisen als unschicklich,
und daher käme kaum jemand auf den Gedanken, Parallelen seiner Arbeit bei
Derrida zu suchen. Und Derrida zu lesen erfordert mindestens genauso viel
Einfühlungsvermögen wie das Technische Handbuch des
Microsoft-Macro-Assemblers, wenn auch in eine etwas andere Richtung. (Um dem
Ausgleich genüge zu tun: Bit-Biegerei ist in Philosphiekreisen ebenso
unschicklich wie Philosophie für die Technos.)
Eine
weitere Auswirkung ist das, was heute unter dem Stichwort "Virtual Reality" in
den Experimentierlabors des Militärs und der Computerfirmen entwickelt
wird. Da hier das Militär auch eine schwere Hand der Geheimhaltung
daraufhält, werden manche sehr interessante Ergebnisse vermutlich auch
nicht so offen herausgegeben. Tatsache ist, daß in gewissen Kreisen schon
in hunderten von Versuchen und getesteten Experimentalreihen festgestellt
worden ist, daß die Wirklichkeit gar nicht so stabil ist, wie sie sich
dem normalen Menschen darstellt. In anderen Worten: Wir erleben hier die
experimentelle Bestätigung der Theorie von Derrida. Die Spur ist es, die
die Wirklichkeit schafft, und nicht umgekehrt. Eine Virtual Reality ist aber
nichts anderes als eine Spur, die mit Absicht und Plan konstruiert worden ist.
Im Gegensatz zu der Spur, die wir die "Realität" nennen, deren
Konstruktion sich im Grau der Urzeiten verliert.
Diese Erkenntnisse sind an sich auch schon seit Jahrtausenden bekannt, aber
eben immer nur einem sehr speziellen Kreis von Personen zugänglich
gewesen, die sich durch die reichhaltig von der Gesellschaft bereitgehaltenen
Sanktionen für normen-abweichendes Querdenkertum nicht abhalten
ließen, um, wie Aldous Huxley es ausdrückte, an "den Pforten der
Wahrnehmung" zu rütteln. Solche Erfahrungen waren aber nur subjektiv
zugänglich, und es war meistens der Versuch dieser Person, seine
Erlebnisse den anderen mitzuteilen, und sie davon zu überzeugen der
wesentliche Grund, der Sanktionen nach sich zog: Z.B. ans Kreuz Nageln (Issa
Ben Jusuf), Vierteilen (Al-Mansur), Scheiterhaufen (Bruno Giordano). Der weise
Ratschlag, denen man postum diesen Unglücklichen geben könnte ist: Si
tacuisses philosophus mansisses. Es gab keine Vermittlungs-Ebene, in der diese
Erlebnisse sozialisierbar waren. Sie waren eben nicht Bestandteil der
Kultur-Spur, wie sie von Derrida in der Schrift- (Sprache) identifiziert wurde.
Und die Spur schafft auch das, was man "Menschliche Kultur" nennt, das, was man
die soziale Gemeinschaft der Sprecher einer gemeinsamen Muttersprache nannte.
Das Wort "Muttersprache" heißt hier also weniger "die Sprache, die die
Mutter spricht" sondern: "Die Sprache ist die Mutter aller Gedanken". In der
Neufassung von Derrida muß man nur das Wort "Spur" gegen "Sprache"
austauschen. Der Grund, warum der Begriff "Spur" so wichtig geworden ist, ist
die Vermittlung durch ein Medium. Sprache geschieht zwar auch über das
Medium des Schalls, also über Luft-Druck- Schwingungen aber das Medium ist
so ephemerisch (so vergänglich), daß es nicht als Mittel (mittelbar)
sondern als UN-Mittel (unmittelbare Kommunikation als das Wort für
Person-zu-Person Austausch) angesehen wird. Nach Derrida ist aber das Mittel
das wesentliche (Ebenso nach McLuhan: The Medium is the Message). Derrida macht
die Behauptung, daß erst die Aufzeichnung, die Fixierung, in irgendeinem
Medium, das schafft, was dann als Spur bezeichnet werden kann. Die erste,
primordiale Aufzeichnung ist der genetische Code. Die nächste, dann das
neuronale Gedächtnis. Dies wurde in der biologischen Evolution geschaffen.
Der Mensch wurde Mensch, als er die Spur exteriorisierte, also außerhalb
seines eigenen Körpers anlegte. Dadurch wurde der Mensch zum Kulturwesen.
Dann kam die Sprache, als man nach einfachen, leicht zu modulierenden
Spur-Trägern suchte und sie in der Stimme fand. Die Entwicklung der
Stimmbänder und des Kehlkopfs, die bei Affen kaum zur Laut-Differenzierung
fähig sind, wäre dann ein Beispiel für induzierte Evolution. Die
Subspezies der Menschen, die qua Mutation modulierbare Stimmbänder
bildete, konnte damit einen eindeutigen selektiven Vorteil in der
Gruppenbildung (gemeinsame Jagd) gegenüber anderen Subspezies gewinnen.
In
der augenblicklich laufenden Entwicklung technischer Anwendungen der Virtual
Reality versucht man zuerst, das was schon bekannt ist, in der Virtual Reality
in diversen Variationen nachzuempfinden. Wie üblich in der
Menschheitsgeschichte ist das zuerst einmal und vor allem: Der Krieg.
Die interessanten Anwendungen liegen - naturgemäß - in den
Bereichen, an die man bisher noch nicht denken konnte, weil das Denk-Medium der
Menschen, die Spur in ihrer augenblicklichen Fixierungsweise, solches noch
nicht unterstützte. Und hier ist es dann sehr sinnvoll, zu Derrida oder zu
Gotthard Günther zu greifen, und sich auf die Ursprünge
zurückzubesinnen, auf den Zusammenhang zwischen dem, was heute der neueste
Schrei der Technologie ist, und dem, was einige hervorragende Denker der
Menschheit schon vor Jahrtausenden in IHRER SPUR fixierten.
Vor
ca. 2500 Jahren formulierte ein anderer eine Spur des Übergangs, den er
damals vollzogen hatte, und der bis heute den Menschen als Leitbild diente. Ich
möchte diese Spur mit einer eigenen Formulierung hier wieder aufgreifen.
Gate gate, paragate, parasamgate bodhi svaha
übertragen:
Gegangen, gegangen, zu anderen Horizonten gegangen, die Gesamtheit des
planetaren Bewußtseins, die Klarheit, Aha!
DAVID65
David, M.-V. Le debat sur les ecritures et l'hieroglyphe aux XVIIe et XVIIIe
siecles 1965
DERRIDA74 Derrida, Jaques Grammatologie Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974
LEIB-BOUVET Brief von G.W. Leibniz Leibniz an Joachim Bouvet Braunschweig,
15.2.1701 und 1703
LEIB-COUTURAT Opuscules et fragments inedits de Leibniz ed. Couturat
LEIB-GER Leibniz, Gottfried Wilhelm Die philosophischen Schriften Ed. Gerhardt
T. VII, p.25
LEIB-MERK Merkel, R.F. Leibniz und China in: Leibniz zu seinem 300. Geburtstag
1952
LEIB-VERJUS Brief von G.W. Leibniz Leibniz an Antoine Verjus Hannover, 4.10.1695