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5. Graphematik oder:
Die nächsten Schritte in der Evolution der Schrift




AG-Text-Code: A-GRAFMA.DOC

5.1. Einleitung

Seit ca. 50 Jahren hat ein neues Element seinen Eingang in die menschliche Kultur gefunden: Der Computer. In diesem Aufsatz soll der Computer unter dem Aspekt der Entwicklung der Schrift des Menschen und in seiner Bedeutung als ein neues Glied in der Evolution der Schrift betrachtet werden. Der vorliegende Text stellt eine Momentaufnahme einer fortlaufenden Arbeit dar. Die jetzige Fassung hat die vorherigen Fassungen teilweise erheblich redefiniert und überholt. Ebenso ist es wahrscheinlich, daß die nächsten Fassungen gleichfalls radikale Erweiterungen und Veränderungen der früheren Fassungen sein werden. Die Aussagen und Feststellungen in diesem Aufsatz entsprechen meinem augenblicklichen Informationsstand, der aufgrund der vielen berührten Wissensgebiete stellenweise spekulativ, manchmal einseitig, oder vielleicht auch von der betreffenden Lokalwissenschaft nicht akzeptiert wird. In sofern kann ich nicht den Anspruch erheben, mit diesem Aufsatz eine wissenschaftliche Arbeit zu erstellen. Dies ist beim Lesen und bei eventuell aufkommender Kritik zu bedenken. In ihrem Kern geht diese Arbeit in die Wurzeln des logischen Denkens, und damit der Wissenschaften, und betritt damit auch notgedrungen Bereiche außerhalb des Feldes der Wissenschaft.

5.2. Die Vision von G. W. Leibniz und das Projekt Leibniz

Die vorliegende Arbeit ist im Projekt Leibniz entstanden. (Siehe auch: Leibniz-Bibliographie: GOP91-I, GOP91-II, GOP91-III, GOP91- IV). Dieses Projekt wird von mir seit ca. 14 Jahren bearbeitet. Ich habe es damals so genannt, weil ich vermutete, daß Leibniz, bei dem ich damals die Ansätze dazu gefunden habe, hier einer Spur folgte, die sehr, sehr alt ist. Man könnte es das älteste kreative Projekt der Menschheit nennen: Die kontinuierliche Selbst-Neuschöpfung der menschlichen Schrift, und mit ihr des menschlichen Bewußtseins.
Die Barockzeit, also das 17. und beginnende 18. Jahrhundert, war die Zeit der Grundlegung unserer heutigen Naturwissenschaft. Nachdem Galilei und Kepler zu Anfang des 17. Jh. die konzeptuellen Grundlagen des neuen Weltbildes der Naturwissenschaft gelegt hatten, gab Newton mit seinem Prinzip der Gravitation diesem Bild die theoretischen Grundlagen (Principia 1687). Er und Leibniz schufen unabhängig voneinander mit der Mathematik der Infinitesimalrechnung die formal-symbolischen Grundlagen für die Mathematik der Naturwissenschaften. Leibniz beschäftigte sich neben seiner mathematischen und logischen Tätigkeit mit einer Vielzahl anderer Wissensgebiete, und leistete überall wichtige Beiträge. Er wird deshalb auch als der letzte Universalwissenschaftler der Menschheit bezeichnet. Im hier gegebenen Zusammenhang ist besonders die Arbeit von Leibniz im Bereich der logischen Sprachen wichtig. Leibniz verfolgte eine Vision: Die Vision der universellen logischen Sprache der Menschheit. Im Zuge dieser Arbeiten entdeckte er das Binär-Zahlensystem. (ºLEIB-BOUVET, ºLEIB-VERJUS) Die mit Beginn des 17. Jahrhunderts einsetzende Entsendung von jesuitischen Missionaren nach China und Japan bewirkte eine besondere Stimulation der damaligen europäischen Geisteswelt. Sie brachte Europa wieder mit der Welt des fernen Ostens in intensiven Kontakt. Dieser Kontakt war fast 2000 Jahre früher, zur hellenistischen Zeit vielleicht am intensivsten und fruchtbarsten gewesen. Damals herrschte reger Verkehr auf der "Seidenstraße", dem alten Karawanenweg, der von China bis nach Kleinasien und Palästina führte. Der Kontakt war nach dem Untergang Roms, der Barbarisierung Europas im frühen Mittelalter und durch die Schließung der Landwege nach Asien im Zuge der Islamisierung Vorderasiens abgerissenen. Leibniz hatte an den neuen Entwicklungen regen Anteil, wie sein Briefwechsel mit einigen der Missionare beweist. Im Kontakt mit China trat eine Kultur ins Gesichtsfeld des europäischen Denkens, deren Hauptartikulationsmedium, die chinesische Schrift, so grundlegend verschieden von der europäischen phonetischen Schrift war, daß sie sofort Anlaß für eine rege Spekulation bot. (Die Kenntnis der genauen Struktur des Chinesischen war damals noch recht lückenhaft und spekulativ). "... die chinesischen Schriftzeichen sind womöglich philosophischer und scheinen auf intellektuelleren Erwägungen zu beruhen, nämlich Zahlen, Ordnung und Relationen herstellende..." (LEIB-BOUV 1703)

5.3. Die Characteristica Universalis

Die chinesische Schrift bot für Leibniz weitere Inspirationen, sein Projekt der Characteristica Universalis zu formulieren. Dies war der Name für seine Vision einer neuen logischen Ausdrucksform der Menschheit, einer philosophischen Sprache: "Eine solch allgemeine Berechnung ergäbe gleichzeitig eine Art Universalschrift, die den Vorteil der chinesischen besäße, weil jeder sie in seiner eigenen Sprache verstünde, die aber die chinesische noch unendlich weit dadurch überträfe, daß man sie in wenigen Wochen lernen könnte, hätte man doch gemäß der Ordnung und Verknüpfung der Dinge wohlverbundene Zeichen, während die Chinesen mit ihren nach der Mannigfaltigkeit der Dinge unendlich vielen Zeichen ein Menschenleben lang brauchen, um ihre Schrift ausreichend zu erlernen." Siehe auch: LEIB-GER, LEIB-MERK, DAVID65. "Dies ist das Hauptziel jener großen Wissenschaft, die ich Charakteristik zu nennen pflege, von der die Algebra, oder Analysis, nur einen sehr kleinen Zweig darstellt; denn sie lehrt uns das Geheimnis, Vernunfturteile festzuhalten und sie dazu zu bringen, gleichsam sichtbare Spuren auf dem Papier zu hinterlassen, ohne viel Raum einzunehmen, und sie damit beliebig nachprüfbar zu machen..." (LEIB-COUTURAT, p.98-99) "Unterdessen werden wir sie vortrefflich dazu verwenden können, um uns dessen zu bedienen, was wir wissen, um sehen zu können, was uns fehlt, und um die Mittel zu erfinden, es zu erlangen, vor allem aber, um die Streitigkeiten in den Dingen auszuräumen, die vom Vernunfturteil abhängen. Denn dann wird Urteilen und Rechnen dasselbe sein." (LEIB-COUTURAT, p.27-28) Bei der Ausformulierung seines Ansatzes stieß Leibniz schnell auf unüberwindliche Probleme, und das Projekt verlor sich im Wirbel seiner weitläufigen philosophischen, mathematischen, und politischen Aktivitäten. Ich sehe darin aber den Anknüpfungspunkt für das Projekt Leibniz, wie ich es seit ca. 1978 wieder aufgegriffen und definiert habe. Leibniz war einer der Mitbegründer der modernen Wissenschaften, und befand sich damit am Anfang einer kulturellen Entwicklung der Menschheit, von der 250 Jahre später der Linguist Benjamin Lee Whorf sagt:
"Es bedarf heute keines tiefdringenden Blickes mehr, um zu sehen, daß die Naturwissenschaft, die Große Offenbarung der modernen westlichen Kultur, ohne ihren Willen in eine ganz neue Kampffront geraten ist. Sie muß nun ... in eine Landschaft vordringen, die zunehmend fremdartiger wird und mit Dingen angefüllt ist, die einem kulturbefangenen Verstand anstößig sind, oder sie wird, nach einem treffenden Wort Claude Houghtons, zum Plagiator ihrer eignen Vergangenheit werden. Im Grunde wurde die neue Front schon in sehr alter Zeit vorausgeahnt. Man gab ihr damals einen Namen, der uns in einer Wolke von Mythen überliefert ist: Babel." (WHORF63, p. 46) und weiter: "Was wir 'wissenschaftliches Denken' nennen, ist eine spezielle Entwicklung des westlichen indoeuropäischen Sprachtypus, der nicht nur eine Reihe verschiedener Dialektiken, sondern auch eine Menge verschiedener Dialekte oder Fachsprachen entwickelt hat. DIESE FACHSPRACHEN WERDEN SICH HEUTE GEGENSEITIG UNVERSTÄNDLICH" und weiter:
"Die genannten Widerstände isolieren nicht nur künstlich die einzelnen Wissenschaften gegeneinander, sie hindern auch die wissenschaftliche Forschung im ganzen daran, den nächsten Schritt ihrer Entwicklung zu tun. Dieser Schritt verlang ganz neue Gesichtspunkte und eine vollständige Loslösung von gewissen Traditionen. Denn bestimmte linguistische Strukturen, die in den Fachsprachen der Wissenschaften verhärteten, die oft auch in den Mutterboden der europäischen Kultur eingebettet sind, aus dem jene Wissenschaften hervorgingen, und die lange als reine Vernunft per se angebetet wurden, sind zu Tode geritten worden." (p. 47) Leibniz stand am Anfang dieser Entwicklung und seine Arbeiten zur Characteristica Universalis zeigen, daß er den Gang der Entwicklung bis zur heutigen Situation vorausgeahnt haben mag. Er versuchte jedenfalls, dieser Konsequenz entgegenzuwirken. Leider vergeblich.

5.4. Die heutige Computertechnologie

Wieso nehme ich heute diese Spur wieder auf, die Leibniz dort gelegt hat? Welchen Anlaß kann uns die heutige Zeit bieten, dieses phantastische Projekt von Leibniz wieder aufzugreifen? Die Antwort lautet natürlich: Der Computer. Ich muß dazu aber einiges an Klärung bieten, denn ich meine mit "Computer" in Wirklichkeit einen speziellen Aspekt dieser uns heute verfügbaren Technologie. Wie bei allen neuen Entwicklungen muß auch die Computertechnologie durch eine gewisse Wachstums- und Reifephase gehen, damit die Eigenschaften und die kulturelle Relevanz dieser Erscheinung erkannt und im richtigen Kontext bewertet werden können. Ich sehe die Computertechnologie als eine konsequente Fortsetzung der Evolution der menschlichen Schriftsprachen, deren letzter "großer Sprung" vor ca. 3000 Jahren die Entwicklung der phonetischen Schriftsprachen durch die Phönizier und ihre Weiterentwicklung durch die Griechen war. Diese Entwicklung leitete ein ganzes Zeitalter des Denkens und der Logik ein. Ich möchte hier die spekulative Ansicht äußern, daß diese heutige Computertechnologie für die Kultur der Menschheit ebenfalls einen "Großen Sprung" darstellt, der an Bedeutung nur mit diesem letzten Sprung verglichen werden kann, und ihn womöglich noch weit übertreffen wird. Im Zuge dieses Sprungs wird das kulturelle Schaffen der Menschheit eine fundamentale Revolution erfahren, was auch die Struktur der Wissenschaften unbedingt mit einschließt. Die jetzigen Entwicklungen werden ein neues Zeitalter dessen einleiten, was man früher den "Logos" nannte, und dessen neue Bezeichnung vielleicht eine ganz andere Charakteristik haben wird.

5.5. Im Anfang war das Wort

Besser als irgendein anderes Zitat chararakterisiert der Anfang des Johannes-Evangeliums dieses vergangene Zeitalter des menschlichen Bewußtseins. In diesem Bewußtsein war "Logos" der Kernbegriff dessen, was das menschliche Denken ausmacht. Dieser Kernbegriff bezeichnete das gesprochene Wort, und dann die Idee, die mit diesem gesprochenen Wort verbunden ist. Die griechische Philosophie basierte auf dem Logos, die Schrift war nur ein Sekundäres Element, geeignet, das Gedächtnis zu stützen, und nichts mehr. Die griechische Philosophie hat zwar den Primat des Logos aufgestellt. Aber sollte es völlig ohne Zusammenhang sein, daß gerade diese griechische Philosophie genau zu dem Zeitpunkt anfing, als mit der alphabetischen Schriftsprache die Voraussetzung der Exteriorisierung des menschlichen Gedankens (des Logos) gegeben war?
(Exteriorisierung: Fixierung auf ein vom menschlichen Träger und Aktivator unabhängiges Medium) Die Entdeckung der Spur: Derrida und die Grammatologie
Der französische Philosoph Derrida hat eine neue Betrachtungsweise für dieses Zentralproblem der Philosophie gefunden. Er hat die These aufgestellt, daß diese Bevorzugung des gesprochenen Wortes tiefgreifende Auswirkungen auf die Denkweise des Abendlandes gehabt hat, und die Wissenschaft entscheidend, und einseitig, geprägt hat. Die folgenden Zitate stammen aus dem Buch von Derrida: Grammatologie. (DERRIDA74)

5.6. Vive la Differance - oder - Im Anfang war die Spur

Derrida ist, wie diejenigen wissen, die seine Werke kennen, ein radikaler Denker. Man könnte auch sagen: Er ist ein Denker des Undenkbaren. Das Kernprinzip seiner Überlegungen ist die Spur, oder ein anderer, verwandter Begriff: Die Differance. Derrida hat diesen Begriff mit Absicht von dem französischen Wort Difference syntaktisch abgegrenzt. Er sagt: "Die (reine) Spur ist die Differance. Sie ist von keiner sinnlich wahrnehmbaren, hörbaren, oder sichtbaren, lautlichen oder graphischen Fülle abhängig, sondern ist im Gegenteil deren Bedingung. Obwohl sie nicht existiert, obwohl sie niemals ein Anwesend-Seiendes außerhalb jeder Fülle ist, geht ihre Möglichkeit all dem zu Recht voran, was man Zeichen (Signifikat/Signifikant, Inhalt/Ausdruck usw.), Begriff oder Operation, motorisch oder sinnlich nennt. Diese Differance ist also so wenig sensibel wie intelligibel und erlaubt die Verknüpfung von Zeichen untereinander im Inneren einer nämlichen abstrakten Ordnung - eines lautlichen oder graphischen Textes zum Beispiel ..." (p. 109) Das Konzept der Differance steht in seiner Fundierung noch vorher, damit auch außerhalb des Wirkungsbereichs der konventionellen Wissenschaften:
"Es kann keine Wissenschaft von der operierenden Differance selbst geben, so wenig wie es eine Wissenschaft vom Ursprung der Präsenz selbst, das heißt von einem bestimmten Nicht-Ursprung, geben kann." (p. 110)
"Somit erweist sich die Differance als die Formation der Form. Aber sie ist andererseits das Eingedrückt-Sein des Abdrucks (empreinte)." (p. 110)
Derrida bringt als Beispiel den Unterschied zwischen einem Lautbild (wie es von einem Menschen wahrgenommen wird), und dem gegenständlichen Laut (wie er von einem Tonbandgerät aufgezeichnet werden kann):
"Das Lautbild ist die Struktur des Erscheinens eines Lautes, was alles andere ist als der erscheinende Laut... Das Lautbild ist das Vernommene: nicht der vernommene Laut, sondern das Vernommen-Sein des Lautes. Das Vernommen-Sein ist seiner Struktur nach phänomenal und gehört einer Ordnung an, die von der Ordnung des wirklichen Lautes in der Welt vollständig verschieden ist." (p. 110-111) Derrida verwendet in den vorhergehenden Sätzen die Sprechweise der Phänomenologie Husserls. Diese Phänomenologie kann als die philosophische Ergründung der vom Menschen subjektiv wahrgenommenen Phänomene bezeichnet werden. Sie ist damit sehr verschieden von der Erforschung der physikalisch meßbaren (objektiven) Ereignisse, die das Gebiet der heutigen (Natur-) Wissenschaften darstellt.
Derrida legt auf den Seiten 111 bis 113 gleichwohl dar, daß die Differance NICHT dem psychischen Innenbereich angehört. Sie ist vielmehr als etwas anzusehen, das VOR der Unterscheidung zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Welt und Seele vorhanden ist.
"Da die Schrift das Subjekt konstituiert und zugleich disloziert, ist die Schrift etwas anderes als das Subjekt, wie immer man dieses auch verstehen mag. Sie wird niemals unter der Kategorie des Subjekts zu fassen sein." (p. 119)
In gewisser Weise konstruiert er damit einen Spalt im Weltbild der klassischen Philosophie, der zwischen der objektiven Welt der Physik und der subjektiven Welt des Erlebten sich auftut. Daß hier ein Zwischenraum ist, ein Etwas, das nicht nur als Lücke zwischen zwei bestehenden existierenden Gegebenheiten vorhanden ist, sondern daß es diese zwei Gegebenheiten als Sekundär-Erscheinungen von sich ableitet, ist der Kern der Aussage.
"Es gilt ... zu erkennen, daß die Differenzen im spezifischen Bereich jenes Eindrucks und jener Spur ... hier zwischen den Elementen in Erscheinung treten, besser noch, sie produzieren, sie als solche an die Oberfläche dringen lassen und Texte, Ketten und Systeme von Spuren konstituieren. Die unerhörte Differenz zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen (zwischen der "Welt" und dem "Erlebten") ist die Bedingung für alle anderen Differenzen, alle anderen Spuren, sie selbst ist schon eine Spur." (p. 113)

5.7. Das Wesen der Spur

"In Wirklichkeit ist die Spur der absolute Ursprung des Sinns im allgemeinen; was aber bedeutet, um es noch einmal zu betonen, daß es einen absoluten Ursprung des Sinns im allgemeinen nicht gibt. Die Spur ist die Differance, in welcher das Erscheinen und die Bedeutung ihren Anfang nehmen. Als Artikulation des Lebendigen am Nicht-Lebendigen schlechthin, als Ursprung aller Wiederholung, als Ursprung der Idealität ist die Spur so wenig ideal wie reell, intelligibel wie sinnlich, und so wenig transparente Bedeutung wie opake Energie; kein Begriff der Metaphysik kann sie beschreiben... Wie könnte es dann noch sinnvoll sein, eine "natürliche" Hierarchie zwischen dem akustischen Eindruck und dem visuellen (graphischen) Eindruck zu errichten? ... Unerhört bleibt die Differenz zwischen den erfüllten Einheiten der Stimme. Und unsichtbar auch die Differenz im Korpus der Inschrift." (p. 114)
Dies dürfte wohl der Kernsatz von Derridas Werk "Grammatologie" sein. Die - so weit mögliche - sprachliche Annäherung an das Wesen dessen, das hinter und unter der Sprache liegt, das Sprache und Schrift begründet, über das daher weder in Schrift noch in Sprache gesprochen werden kann. Das, über das Wittgenstein seinen berühmten Ausspruch tat: "Wovon man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen."
Für diesen Bereich hatten alle Philosophen, die sich zuvor mit dem Thema befaßten, nur eine Umschreibung: Sie nannten es "Gott" und übergaben ihn der Theologie. Derrida hat hier einen Vorstoß gemacht, das, was mit den Mitteln der heutigen Begrifflichkeit deshalb nicht faßbar ist, weil es etwas ist, das die Begrifflichkeit selber begründet, in irgendeiner Weise anzugehen. Er setzt damit die Arbeit Hegels fort, der seine Dialektik für diesen Zweck geschaffen hatte.
Sein Ansatz ist deshalb so radikal, weil er alles, was sowohl im normalen "gesunden Menschenverstand" als auch in der Grundlage der Wissenschaft als gegeben angenommen wird, hinterfragt, und es "dekonstruiert", wie er dies nennt. "Als Ursprung der Erfahrung des Raumes und der Zeit macht es die Schrift, das Gewebe der Spur, möglich, daß sich die Differenz zwischen Raum und Zeit artikuliert und als solche in der Einheit einer Erfahrung (eines "gleichen" Gelebten, ausgehend von einem "gleichen" Leib) erscheint." (p. 114-115) "Ohne die Differenz zwischen dem erscheinenden Sinnlichen und seinem erlebten Erscheinen (dem "psychischen Eindruck") könnte die temporalisierende Synthese, die das Auftreten von Differenzen in einer Kette von Bedeutungen erlaubt, unmöglich wirksam werden." (p. 115)
Und genau hier liegt der Ursprung, also die Ableitung des Logos, das, was das Kernprinzip der klassischen Philosophie darstellt:
"Daß der Logos vor allem Abdruck und daß dieser Abdruck die schriftliche Quelle der Sprache ist, bedeutet, daß er nicht eine schöpferische Aktivität, das kontinuierliche und erfüllte Element des göttlichen Wortes usw. sein kann." (p. 118)
"Wenn die Spur - Urphänomen des "Gedächtnisses", welches vor dem Gegensatz zwischen Natur und Kultur, Animalität und Humanität usw. gedacht werden muß - zur Bewegung der Bedeutung selbst gehört, so ist sie a priori eine geschriebene Spur, gleichgültig, ob sie in der einen oder anderen Form in ein "sinnliches" und "räumliches", "äußerlich" genanntes Element eingeschrieben wird. Diese Spur, Urschrift, ursprüngliche Möglichkeit des gesprochenen Wortes, dann "Schrift" im engeren Sinn, ... diese Spur ist die Eröffnung der ursprünglichen Äußerlichkeit schlechthin, das rätselhafte Verhältnis des Lebendigen zu seinem Anderen und eines Innen zu einem Außen." (p. 123-124)
Nach diesen Ausführungen, die die Existenz eines neuen Terrains anzeigen, käme die praktische Frage: Welche Bewandtnis kann eine solche Thematik außerhalb der reinen Philosophie haben?

5.8. Computertechnologie als Schrift

Es geht hier um eine neue Sichtweise der Computer- Technologie im Lichte der Evolution des Bewußtseins. Solange das Denken auf den Primat des Logos festgelegt ist, kann keine adäquate Betrachtung, damit Behandlung und Bewertung der Computer- Technologie erfolgen. Dies ist die grundsätzliche Nutzanwendung der Derridaschen Thesen. Formalsysteme, die im Computer aktiviert werden, sind als menschliche Kultur-Äußerung kaum als Sprache, aber viel eher als Schrift zu bezeichnen. Wenn man aber den Gedankengang von Derrida weiterverfolgt, dann eröffnet sich uns ein tieferes Verständnis von dem, was er die Spur nennt, Ausblicke auf die neuen Dimensionen der menschlichen und erstmals, außermenschlichen Kultur, die hier zugänglich werden.
Dies soll hier, und in den folgenden Versionen weiter verfolgt werden. In der augenblicklichen Version kann der Gedanke nur angerissen werden. Er stellt ein Paradigma dar, ein Leitmotiv, unter dem die weitere Arbeit fortgeführt werden wird.

5.9. Der Rosetta-Stein:
Die Übertragung der Derridaschen Thesen in den Kontext der Computer.

So, wie zitiert, und wahrscheinlich auch so, wie von Derrida in seinen Schriften formuliert, werden seine Gedanken vielleicht nicht sehr vielen Menschen greifbar und verständlich werden. Es ist nötig, die Beispiele zu zeigen, die sich unter Anwendung seiner Erkenntnisse vielleicht besser und allgemeiner formulieren lassen. Und hier ist der Computer-Bereich wieder das geeignete Feld.
Die These, die ich dazu aufstelle, ist die, daß die Computer seit ca. 40 Jahren schon eine sehr radikale Bewußtseins- Veränderung der Menschheit bewirkt haben, und daß also die radikalsten Gedanken von Derrida schon in voller Blüte unter den Menschen wirksam sind. Um es in anderen Worten zu sagen: Die Spur ist schon lange dabei, ihre eigenen neuen Bahnen zu legen. Nur: Wir haben noch nichts davon gemerkt. Die arkane Sub-Kultur der Systemprogrammierer
Verständlicherweise ist dies noch nicht bis auf die Ebene der Normalkultur durchgedrungen: Gedankenkonstrukte dieser Art sind z.B. noch das mehr oder weniger arkane Handwerkszeug der Systemprogrammierer und Computer-Cracks. Man arbeitet in der systemnahen Assembler-Programmierung zuweilen mit Tricks und Kniffen, die aus drei Gründen auch kaum Eingang in die Welt der akademischen Informatik gefunden haben. Polykontexturale Programmierung
Der erste Grund ist, daß diese Konstrukte allen Regeln der sauberen, strukturierten und wohlgeformten Programmierung nicht nur widersprechen, sondern, wie man auf englisch sagen würde: "They fly right in the face of it." Man könnte sie auch als "informatische Obszönitäten" bezeichnen, oder wie Weizenbaum es einmal treffend nannte: "inzestuöse Programmierung". Der Grund für diesen Abscheu ist, wenn man es aus der Warte von Derrida sieht, sehr klar: Der "gesunde Menschenverstand" weigert sich strikt, solche Konstrukte zu denken, anzusehen, oder sonstwie zur Kenntnis zu nehmen. Solche Konstrukte sind "monströs". Der Programmierer-Underground weiß von solchen Möglichkeiten. Siehe: "Real Programmers don't Use Pascal". Mit den heute gebräuchlichen Programmiersprachen ist es schwer, auf diese Weise zu programmieren. In Assembler ist es möglich, eine Speicherstelle, oder, was öfter gemacht wird, ein Register, zu verschiedenen Zeiten des Programmlaufs, in anderen Kontexten, auf völlig verschiedene Weise zu gebrauchen. Dies kann man in der Sprechweise von Gotthard Günther auch "polykontexturale Programmierung" nennen. Der Betrachter des statischen Codes hat sehr wenig Möglichkeiten, die Absichten des Programmierers zu erfahren, wenn er nicht den Programmlauf im Debugger "durch-steppen" möchte, was bei der potentiell nahe unendlichen Zahl der Programmzustände auch kaum praktisch ist.
Der Stoff, aus dem die Milliarden sind
Der zweite Grund ist schlicht, daß es sich hier um Betriebsgeheimnisse handelt, die man natürlich nicht an die große Glocke hängt, weil man eben mit diesem oder jenem speziellen Assembler-Trick ein paar Mikrosekunden gewinnt. Diese Mikrosekunden sind aber der Stoff, aus dem Millionen (oder Milliarden) gemacht werden. Ein inzwischen etwas bekannter gewordenes Beispiel ist die Methode, mit der Andreas von Bechtolsheim sein SUN-Imperium begründete. Er konnte damals aus seinen 68000er Boards durch eine geschickte Plazierung des RAS/CAS Memory Access Zyklus ein paar Nanosekunden heraus- schinden, die seine Maschinen um einen entscheidenen Faktor gegenüber der Konkurrenz schneller machten. Der Rest ist Geschichte.
Ein anderes, ebenfalls schon etwas bekannteres Beispiel, ist der ROM-Code des Macintosh, ein Machwerk, das Insider als "das ausgeknautschteste Stück Assembler-Code der Menschheits- Geschichte" bezeichnen. Es gab einen Riesenaufstand, als vor ein paar Jahren Teile dieses Codes in den Mailboxen erschienen. Nun, diese Top-Secrets von damals sind heute nicht mehr viel wert, und die intellektuelle Meisterleistung, soviel Performance in das für heutige Verhältnisse wirklich ärmliche ROM/68000er Gespann zu zwingen, wird durch die Prozessorleistungen der RISC Computer nach der puren brute-force Methode völlig ausgelöscht. Die eingebauten Denk-Bremsen
Der dritte Grund ist noch schlichter: Die Leute, die mit diesen Konzepten so selbstverständlich umgehen, haben aufgrund der ungeheuren Spezialisation des Fachgebiets, und eines Effekts den man auch "Fachidiotie" nennt, keine sprachliche Möglichkeit, ihr Wissen in eine Form umzusetzen, die es einer breiteren Allgemeinheit verständlich machen könnte, wenn sie denn nun selber wüßten, daß das, was sie da denken in irgendeiner Weise etwas besonderes ist. Die Computer-Cracks sind oft in ihrer technischen "Denke" festgefressen, und Philosophie gilt in Techno-Freak Kreisen als unschicklich, und daher käme kaum jemand auf den Gedanken, Parallelen seiner Arbeit bei Derrida zu suchen. Und Derrida zu lesen erfordert mindestens genauso viel Einfühlungsvermögen wie das Technische Handbuch des Microsoft-Macro-Assemblers, wenn auch in eine etwas andere Richtung. (Um dem Ausgleich genüge zu tun: Bit-Biegerei ist in Philosphiekreisen ebenso unschicklich wie Philosophie für die Technos.)

5.10. Derrida und die Virtual Reality

Eine weitere Auswirkung ist das, was heute unter dem Stichwort "Virtual Reality" in den Experimentierlabors des Militärs und der Computerfirmen entwickelt wird. Da hier das Militär auch eine schwere Hand der Geheimhaltung daraufhält, werden manche sehr interessante Ergebnisse vermutlich auch nicht so offen herausgegeben. Tatsache ist, daß in gewissen Kreisen schon in hunderten von Versuchen und getesteten Experimentalreihen festgestellt worden ist, daß die Wirklichkeit gar nicht so stabil ist, wie sie sich dem normalen Menschen darstellt. In anderen Worten: Wir erleben hier die experimentelle Bestätigung der Theorie von Derrida. Die Spur ist es, die die Wirklichkeit schafft, und nicht umgekehrt. Eine Virtual Reality ist aber nichts anderes als eine Spur, die mit Absicht und Plan konstruiert worden ist. Im Gegensatz zu der Spur, die wir die "Realität" nennen, deren Konstruktion sich im Grau der Urzeiten verliert.
Diese Erkenntnisse sind an sich auch schon seit Jahrtausenden bekannt, aber eben immer nur einem sehr speziellen Kreis von Personen zugänglich gewesen, die sich durch die reichhaltig von der Gesellschaft bereitgehaltenen Sanktionen für normen-abweichendes Querdenkertum nicht abhalten ließen, um, wie Aldous Huxley es ausdrückte, an "den Pforten der Wahrnehmung" zu rütteln. Solche Erfahrungen waren aber nur subjektiv zugänglich, und es war meistens der Versuch dieser Person, seine Erlebnisse den anderen mitzuteilen, und sie davon zu überzeugen der wesentliche Grund, der Sanktionen nach sich zog: Z.B. ans Kreuz Nageln (Issa Ben Jusuf), Vierteilen (Al-Mansur), Scheiterhaufen (Bruno Giordano). Der weise Ratschlag, denen man postum diesen Unglücklichen geben könnte ist: Si tacuisses philosophus mansisses. Es gab keine Vermittlungs-Ebene, in der diese Erlebnisse sozialisierbar waren. Sie waren eben nicht Bestandteil der Kultur-Spur, wie sie von Derrida in der Schrift- (Sprache) identifiziert wurde. Und die Spur schafft auch das, was man "Menschliche Kultur" nennt, das, was man die soziale Gemeinschaft der Sprecher einer gemeinsamen Muttersprache nannte. Das Wort "Muttersprache" heißt hier also weniger "die Sprache, die die Mutter spricht" sondern: "Die Sprache ist die Mutter aller Gedanken". In der Neufassung von Derrida muß man nur das Wort "Spur" gegen "Sprache" austauschen. Der Grund, warum der Begriff "Spur" so wichtig geworden ist, ist die Vermittlung durch ein Medium. Sprache geschieht zwar auch über das Medium des Schalls, also über Luft-Druck- Schwingungen aber das Medium ist so ephemerisch (so vergänglich), daß es nicht als Mittel (mittelbar) sondern als UN-Mittel (unmittelbare Kommunikation als das Wort für Person-zu-Person Austausch) angesehen wird. Nach Derrida ist aber das Mittel das wesentliche (Ebenso nach McLuhan: The Medium is the Message). Derrida macht die Behauptung, daß erst die Aufzeichnung, die Fixierung, in irgendeinem Medium, das schafft, was dann als Spur bezeichnet werden kann. Die erste, primordiale Aufzeichnung ist der genetische Code. Die nächste, dann das neuronale Gedächtnis. Dies wurde in der biologischen Evolution geschaffen. Der Mensch wurde Mensch, als er die Spur exteriorisierte, also außerhalb seines eigenen Körpers anlegte. Dadurch wurde der Mensch zum Kulturwesen. Dann kam die Sprache, als man nach einfachen, leicht zu modulierenden Spur-Trägern suchte und sie in der Stimme fand. Die Entwicklung der Stimmbänder und des Kehlkopfs, die bei Affen kaum zur Laut-Differenzierung fähig sind, wäre dann ein Beispiel für induzierte Evolution. Die Subspezies der Menschen, die qua Mutation modulierbare Stimmbänder bildete, konnte damit einen eindeutigen selektiven Vorteil in der Gruppenbildung (gemeinsame Jagd) gegenüber anderen Subspezies gewinnen.

5.11. Ausblicke

In der augenblicklich laufenden Entwicklung technischer Anwendungen der Virtual Reality versucht man zuerst, das was schon bekannt ist, in der Virtual Reality in diversen Variationen nachzuempfinden. Wie üblich in der Menschheitsgeschichte ist das zuerst einmal und vor allem: Der Krieg.
Die interessanten Anwendungen liegen - naturgemäß - in den Bereichen, an die man bisher noch nicht denken konnte, weil das Denk-Medium der Menschen, die Spur in ihrer augenblicklichen Fixierungsweise, solches noch nicht unterstützte. Und hier ist es dann sehr sinnvoll, zu Derrida oder zu Gotthard Günther zu greifen, und sich auf die Ursprünge zurückzubesinnen, auf den Zusammenhang zwischen dem, was heute der neueste Schrei der Technologie ist, und dem, was einige hervorragende Denker der Menschheit schon vor Jahrtausenden in IHRER SPUR fixierten.

5.12. Epilog

Vor ca. 2500 Jahren formulierte ein anderer eine Spur des Übergangs, den er damals vollzogen hatte, und der bis heute den Menschen als Leitbild diente. Ich möchte diese Spur mit einer eigenen Formulierung hier wieder aufgreifen. Gate gate, paragate, parasamgate bodhi svaha
übertragen:
Gegangen, gegangen, zu anderen Horizonten gegangen, die Gesamtheit des planetaren Bewußtseins, die Klarheit, Aha!

5.13. Literatur

DAVID65 David, M.-V. Le debat sur les ecritures et l'hieroglyphe aux XVIIe et XVIIIe siecles 1965
DERRIDA74 Derrida, Jaques Grammatologie Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974
LEIB-BOUVET Brief von G.W. Leibniz Leibniz an Joachim Bouvet Braunschweig, 15.2.1701 und 1703
LEIB-COUTURAT Opuscules et fragments inedits de Leibniz ed. Couturat
LEIB-GER Leibniz, Gottfried Wilhelm Die philosophischen Schriften Ed. Gerhardt T. VII, p.25
LEIB-MERK Merkel, R.F. Leibniz und China in: Leibniz zu seinem 300. Geburtstag 1952
LEIB-VERJUS Brief von G.W. Leibniz Leibniz an Antoine Verjus Hannover, 4.10.1695


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