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11. Lingua Logica Leibnitiana



Ein computerbasiertes Schriftsystem als Fortführung von Ideen der Characteristica Universalis von Leibniz
Erweiterte Fassung vom 10.06.1994
AG-Text-Code: LEIB-SYM.DOC
Copyright ©
Andreas Goppold
Dipl.-Inform., Master of Science

11.1. Anmerkung

Lingua Logica Leibnitiana wird im Folgenden mit L3 abgekürzt. Die Verwendung des Begriffs "lingua" bedeutet weniger "Sprache" als vielmehr "Schrift" im Sinne des von Derrida in "Grammatologie" geprägten Begriffs der "Spur" und verläßt damit den Geltungsbereich von "Sprache" als phonetisch/verbal determiniertes Kommunikations- und Denkmedium. Weiterhin sind Begriffe wie "Programmier-Sprache" ebenfalls in diesem Sinn zu lesen. Es handelt sich auch hier um Erscheinungen, die über den Bereich der sprechbaren Sprachen hinausreichen.

11.2. Die Bedeutung der Vision und der Arbeiten von Leibniz für die heutige Zeit

Der Name Leibniz steht nicht nur für einen hervorragenden Wissenschaftler und Philosophen sondern auch für eine kulturelle Vision. Es ist die geistige Anziehungskraft dieser Vision, und ihre zeitlose Aktualität, die Leibniz ganz besonders für unsere heutige Zeit bedeutend macht. Vielleicht mag sich das für jeden einzelnen anders darstellen - ich möchte hier präsentieren, was mich daran bewegt. Hermann Hesse hat es in seinem "Glasperlenspiel" sehr klar herausmodelliert. Es ist die Vision von einem transformierten Abendland, von einem Ort und einer Zeit, wo eine Kristallisation und eine Synthese der besten Werte der Weltkulturen stattfinden kann. Es ist die Vision von einer Welt, in der die Philosophen in der Regierung ein Wort mitzureden haben, und in der die Anstrengungen der Wissenschaftler auf ein gemeinsames und geeintes Ziel gerichtet sind. Die Vision von einer Welt, in der der Mathematiker sich mit dem Musiker verständigen kann, und der Architekt mit dem Poeten, und sie sind sich alle einig in dem tieferen Gehalt dessen, was sie alle verbindet. Diese Vision ist, wie Hesse andeutet, so alt wie unsere Kultur. Sie ist in der kosmopolitischen Vision des Plato enthalten, und wir finden sie ebenfalls in den anderen Hochkulturen der Welt, dem alten China, Indien, und der arabisch-maurischen Hochkultur.

11.2.1. Leibniz und die Entwicklung des menschlichen Geistes

Leibniz wurde ein Universalgenie genannt, ein Polyhistor und ein weltumspannender Geist. Leibniz sah sein Wirken als eine Einheit von Logik, Metaphysik, und Religion (Widmaier, p. 221). Von der Warte eines solchen Geistes gesehen ist die menschliche Entwicklung eingebettet in die Entwicklung des Kosmos, so wie Plato es in Timaios ausgedrückt hat: Ein zoon enpsychon ennoun, also ein beseeltes und begeistetes Lebewesen. Ich möchte Leibniz als Vertreter einer Mutation der Menschheit betrachten, einer, bei dem das globale Denken, das Denken als Menschheit und zum Besseren der Menschheit, gegenüber dem Denken des Einzel-Ichs, des Ego, des Individuums, seinem Erhalt, seiner Stärkung und Machterhaltung überwog. Seine Arbeit an der Characteristica war einer der zentralen Bestrebungen, diese Globalität und Universalität des Denkens manifestierbar zu machen, und dieses Denken aus dem Gefängnis des individuellen Geistes der sterblichen Person G.W. Leibniz zu befreien, es der ganzen Menschheit zugänglich zu machen. Ich möchte deshalb in den folgenden Gedankengängen etwas von diesem universalen Entwicklungsgang der Menschheit skizzieren:

11.2.2. Die Wendezeit der Weltkulturen

Das Zentralthema der Characteristica findet seinen Ursprung in der Entwicklung der Schriften vor ca. 5000-7000 Jahren (Bibliographie: Haarmann, Flusser, Derrida). Die Schrift steht in unlösbarer Verbindung mit der Ausbildung von Hierarchiestrukturen, Priesterschaften, Königreichen, Verwaltungen, und Zentralstaaten, so in Mesopotamien, Ägypten und später China. Vor 2500 Jahren, zwischen 700 und 300 v. Chr, entstand das geistige Europa, als dessen Exponenten wir Leibniz ansehen können. Damals hat die Entwicklung der Menschheit auf dem ganzen eurasischen Kontinent eine entscheidende Weichenstellung genommen. Es war ein geschichtlicher Augenblick höchster Intensität, eine Wendezeit: Nach Jaspers wurde sie auch Achsenzeit genannt. In dieser Zeit liegt das persische Großreich der Achämeniden (559 bis 330), welches das erste Mal in der Weltgeschichte die Kulturen des fernen Asiens, des Zweistromlandes, Ägyptens, und Europas in Verbindung brachte. In dieser Zeit differenzieren sich die Hauptlinien des philosophischen Denkens der Menschheit:
1) Das Erwachen des griechischen und abendländischen Denkens, das Auftreten der ersten griechischen Naturphilosophen: Pythagora s, Thale s, Anaximande r, Parmenide s und Herakli t. Kurz danach die berühmten Philosophen der Athener Schule: Sokrates, Plato, und Aristoteles, die die europäische Philosophie begründeten. 2) In Indien Gautama Shakyamuni Buddh a. 3) In China Lao Tsu und Kung Fu Tse oder Konfuziu s. 4) In Persien lehrte Zoroaster oder Zarathustra seine Lehre vom Absoluten Dualismus.

11.2.3. Der Zenit des Abendlandes

Die Rolle von Leibniz sollte vor dem Hintergrund dieser weltgeschichtlichen geistigen Entwicklung gesehen werden. Leibniz war der Erbe einer Geistesentwicklung von 2000 Jahren. Er erbte mehr von den verschiedenen Gedanken seiner Vorgänger als irgendjemand vorher oder hinterher. Es ist noch ein Buch zu schreiben, mit dem Titel: "Der Geist des Leibniz". (Whitehead: Modes of Thought, p.3) Meiner Meinung nach ist es heute angebracht, ein Computerprogramm, oder ein Multimedia Hypertext-System, oder ein ähnliches, computergestütztes "Denkzeug" in seinem Namen zu konstruieren. Leibniz war wie kein anderer der Exponent und die Kulmination der geistigen Entwicklung des Abendlandes. Sollte es je eine Anstrengung geben, das Wissen des Abendlandes in einem Computersystem zu versammeln, dann müßte dieses System den Namen Leibniz tragen.

11.2.4. Das Ende des Abendlandes

Mit Leibniz ist auch das Ende dieser Entwicklung verbunden. Es gibt sehr gravierende Anzeichen dafür, daß diese Endphase unsere Zeit ist. Die heutige Zeit bringt eine globale Reorganisation und Re-Strukturierung aller sogenannten fundamentalen Werte und Begriffe unserer Zivilisation. Dazu ein Zitat von Gotthard Günther (Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, p. 114):

Die Bewußtseinsgeschichte des Abendlandes und der weltgeschichtlichen Epoche, der Europa angehört, ist zu Ende. Das zweiwertige Denken hat alle seine inneren Möglichkeiten erschöpft, und dort wo sich bereits neue spirituelle Grundstellungen zu entwickeln beginnen, werden sie gewaltsam in dem alten längst zu eng gewordenen klassischen Schema interpretiert. Man kann eben eine alte Logik nicht ablegen wie ein fadenscheinig gewordenes Kleid. Der Übergang von der klassisch-Aristotelischen Gestalt des Denkens zu einer neuen und umfassenderen theoretischen Bewußtseinslage erfordert eine seelische Metamorphose des gesamten Menschen. Einer nicht-Aristotelischen Logik muß ein trans-Aristotelischer Menschentypus entsprechen und dem letzteren wieder eine neue Dimension menschlicher Geschichte.

11.2.5. Leibniz und die Entstehung des trans-aristotelischen Menschentypus

Das abendländische Denken, das hier auch das aristotelische genannt wird, ist ein Produkt der indogermanischen Sprachstruktur. Wenn Leibniz wirklich Chinesisch gelernt hätte, dann hätte sein Plan der Characteristica, einer unzweideutigen logischen Schrift, im Kontext des Chinesischen vielleicht eine ganz andere Wendung genommen. Die Logik des Seienden, wie sie von Parmenides begründet, und im "Tertium non Datur" zum Kernsatz der abendländischen Logik geworden ist, ist nicht notwendigerweise in dieser Form im chinesischen Denksystem enthalten. Ob bewußt oder unbewußt, so hat doch in der Person Leibnizens im Jahre 1700 der entscheidende Kontakt zwischen dem Denken des Abendlandes und des Ostens stattgefunden. Weltgeschichtlich ist das, was heute passiert, nur ein paar Augenblicke später, eine direkte Auswirkung des damaligen Erstkontakts.
Nachdem Europa in den letzten 500 Jahren dem Rest der Welt die "Segnungen seiner Zivilisation" gebracht hat, haben die anderen nun ihre Lektion gelernt. Der Aufstieg der asiatischen Industriemächte ist nichts anderes als das Anzeichen, daß man dort die Lektionen der aristotelischen Logik gelernt hat, und die maschinellen Prozesse beherrscht. Aber Menschenführung wird nicht mit aristotelischer Logik gemacht. Im Osten wurden Philosophiesysteme entwickelt, die auf einer Untereinander-Abhängigkeit von Allem mit Allem beruhen, so das buddhistische System mit seinem "Gesetz der wechselseitigen Verursachung". (Bibliographie: Conze, Frauwallner, Streng) Eine Individualität ist nichts als eine Spiegelung, ein Phantom. Es existiert keine individuelle Wesenheit. Dies wird in der Struktur der chinesischen und japanischen Sprachen reflektiert. Die asiatischen Sprach- und Kultursysteme enthalten eine uns Westlern schwer zugängliche Dimension eines zwischenmenschlichen Universums mit einer ungeheuer komplexen Sozialstruktur. Diese Sozialstruktur ist in jeder Redewendung, jeder Floskel der asiatischen Sprachen enthalten, und kaum übersetzbar in die indogermanischen Sprachen. Und die Meisterung dieser Sprache bedeutet Meisterung der Menschenführung. Dies könnte das wirkliche Geheimnis des japanischen Managements sein. Die indogermanische Sprachstruktur, so wie sie das Griechische zuerst in seiner Formulierung durch Aristoteles manifestierte, zwingt uns durch ihre Subjekt-Verb-Objekt Schematik zu einer entsprechenden Sichtweise. (Siehe auch: Whitehead, Process and Reality, p. 15). Das ist gut für objektive (positivistische) Naturwissenschaft, das Studium von physikalischen Effekten, zur Einrichtung von Fließbandproduktionen. Aber es ist schlecht für die Seele der Menschen, die durch Vereinzelung in einer vermassten Industriegesellschaft ihre Motivation und den inneren Halt verloren haben. Die Asiaten haben etwas gelernt, was Gotthard Günther das "polykontexturale Denken" nennt. Sowohl im geistigen Universum der Einzeldinge, als auch in einer Welt, in der alles mit allem zusammenhängt, zu denken, ist die Fähigkeit, auf die es heute ankommt. All dies wird berührt, wenn hier von der Entstehung des trans-Aristotelischen Menschentypus gesprochen wird.

11.3. Die Bedeutung des Modells der chinesischen Schrift für Europa

Die chinesische Schrift ist ein ideographisches Symbolsystem, das unabhängig von der gesprochenen Sprache ist. Vor der Einigung Chinas gab es auf dem chinesischen Territorium noch wesentlich mehr Dialekte und Subsprachen als heute. Daher war ein Notationssystem, das auf ideographischer anstatt phonetischer Basis beruhte, sehr vorteilhaft bei der Bildung einer zentralen Verwaltungsstruktur, die durch dieses Schriftsystem keine der damals gesprochenen Sprachen bevorzugte, und es damit vermied, eine ethnische Vorherrschaft einer bestimmten Sprachgruppe zu installieren. Die enorme Komplexität der chinesischen Schrift diente dabei als Machtstabilisator. Ein gewisser Satz von vielleicht 3000 Zeichen war von allen Schreibkundigen lernbar, aber den richtigen Gebrauch der spezielleren Zeichen, deren Zahl insgesamt ca. 10.000 ist, konnte man nur lernen, wenn man durch die direkte Schulung (und Überwachung) der kaiserlichen Lehranstalten gegangen war. Dies war ein entscheidender Faktor für die Einigung des chinesischen Reiches, und der Grund, warum China nicht wie Europa in den letzten 2000 Jahren in einen Flickenteppich von Nationalsprach-Staaten zerfallen ist. Die sprachlich-kulturell-ideologische Dominanztendenz liegt an der Wurzel der europäischen nationalen Konflikte. Und hier liegt auch der immerwährende Hemmschuh einer weitergehenden Einigung Europas. Leibniz hatte in seinen Bemühungen um die Überwindung der Gegensätze in Europa diesen Faktor erkannt, und seine Characteristica Universalis war ein Ansatz zur Überbrückung.

11.4. Im Bannkreis der Leibnizschen Idee

Wer sich der Vision von Leibniz verbunden fühlt, der wird irgendwann in seinem Leben erkennen, daß er oder sie "unversehens selbst tief in den Bannkreis dieser Idee geraten ist, zu spät, um sich diesem faszinierenden Projekt noch zu entziehen, aber zu früh, um bereits alle Klippen und Untiefen darin abschätzen zu können" wie es Rita Widmaier in ihrem Buch "Die Rolle der chinesischen Schrift in Leibniz' Zeichentheorie" so treffend ausgedrückt hat. So ist es mir im Jahre 1977 ergangen, als ich nichtsahnend auf der Suche nach einem Motto für meine Informatik-Diplomarbeit "Artificial Intelligence and Learning" auf den Ausspruch von Leibniz "Lasset uns rechnen" gestoßen bin. Mir erschien damals die Arbeit von Leibniz zur Characteristica Universalis als ein Urahn der heutigen AI-Projekte, und die Verbindung zu Leibniz sollte unauffällig die Fragwürdigkeit von AI-Theorien anmahnen, Theorien, die sich unhinterfragt auf ein sehr enges Erkenntnisspektrum verlassen, wie es in der modernen AI vorherrscht. Diese Theorien begründen sich auf eine Denkschule, die von Demokrit, Epikur, Locke und Hume ausging, und mit der sich Leibniz schon zu seiner Zeit intensiv auseinandergesetzt hatte - und zu anderen Ergebnissen gekommen war, als diese. Aus dieser Auseinandersetzung stammt das folgende Zitat:

Locke: Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu Leibniz: Nisi intellectus ipse Locke: Nichts ist im Geiste, was nicht vorher in den Sinnen war Leibniz: Ausgenommen der Geist selber

11.4.1. Das Projekt Leibniz

Ich startete das Projekt Leibniz im Jahre 1984 im Rahmen einer Kooperative von Software-Entwicklern, die ein deutschsprachiges Programmiersystem schaffen wollten. Dieses System war als eine syntaxfreie, ikonische Programmiersprache implementiert. Die Strukturähnlichkeit mit der chinesischen Sprache war damals aufgefallen, und das Projekt bewegte sich auf einem ähnlichen Terrain wie Leibniz in seinen damaligen Überlegungen zur Characteristica. Sehr bald wurde aber klar, daß wir hier in genau denselben Sumpf von syntaktischer und semantischer Interdependenz geraten waren, der auch Leibniz schon gestoppt hatte, Schwierigkeiten, die zur Einstellung des Projektes in dieser Form führten. Ich führte es dann unter anderer Zielsetzung in den folgenden zehn Jahren weiter, und entwickelte daraus das Leibniz® System. Dies geschah zunächst nebenher neben meiner Arbeit in der industriellen Software-Entwicklung und ab 1988 dann in Zusammenarbeit mit der Uni BW München. Mit einer Größe von 10.000 Routinen, 100.000 Zeilen Programmtext in 6 MB Source ist es eines der größten in einem Einpersonenprojekt je implementierten Software-Systeme. Es ist ein in sich geschlossenes System, unabhängig von einem Betriebssystem, und kann auf jede Hardware aufgesetzt werden. Es benötigt keine externen Compiler, Editoren und andere Tools. Es ist damit ein eigenständiges Software-Universum (oder im Leibnizschen Sinne vielleicht eine Software-Monade). Am ehesten läßt es sich vielleicht als Hybridsystem zwischen Programmiersprache, Programmierumgebung, Software-Engineering System, und einem "Mind Amplification Tool", einem Denkzeug (analog zu Werkzeug) bezeichnen.

11.5. Leibniz' Characteristica aus heutiger Sicht

11.5.1. Programmiersprachen und formales Denken

Die Entwicklung der Computer-Programmierung kann als ein globales Phänomen in der geistigen Entwicklung der Spezies homo sapiens gesehen werden. Nach Derridas Grammatologie und Vilem Flusser ist hier eine Schwelle überschritten: Der Schritt weg von der kulturellen Fixierung der Menschheit auf sprachabhängige phonetische Codes hin zu nicht sprechbaren, geschriebenen, maschinell fixierten oder graphischen Codes. Heute haben Millionen von Programmierern Millionen Mannjahre Erfahrung mit formalen Schriftsystemen in Form von Programmiersprachen gesammelt. Die Fähigkeit, sich in formalen Systemen auszudrücken, ist mit der heutigen Generation auf Altersgrenzen ab zehn Jahre gekommen, also fast schon gleichauf mit der alphabetischen Sprachfertigkeit. Dies bedeutet, daß die Ausdrucksweisen in formalen Systemen allmählich zum Allgemeingut der Menschheit werden. Damit ergeben sich gänzlich andere Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Projekts der Characteristica.

11.5.2. Eine Characteristica Specialis

Ein Schriftsystem, mit dem man alle philosophischen Fragen mit "lasset uns rechnen" lösen können wird, ist auch heute noch nicht in Sicht. Der Weg zu einer Characteristica Universalis ist noch weit, so weit, daß wir nicht sehen können, wie wir überhaupt dahin gelangen können. Hier soll ein evolutionärer Ansatz vorgeschlagen werden. Daher soll am Anfang eine Characteristica Specialis stehen, die Verwirklichung von speziellen Formalsystemen für beschränkte Einsatzbereiche, so z.B. technische oder juristische Dokumentation, Verwaltungstextverarbeitung etc. Dies ist eine vordringliche Aufgabe in allen Bereichen der heutigen Weltzivilisation. Zwar ist mit Englisch de facto eine Weltsprache geschaffen worden, aber die Problematik liegt nicht nur in der ad-hoc Verständigung der Menschen, sondern mehr noch in der systematischen Dokumentation und Ablage von Informationsmengen in Gigabyte-Größe, wie sie von Organisationen wie der Europäischen Union heute erzeugt werden. Natürliche Sprachen sind für solche Aufgaben nicht mehr geeignet.
Das Europa der vielen Nationen, die multinationalen Konzerne, sie müssen alle ein gemeinsames Operationssystem schaffen, das Informationen recht einfacher Struktur, aber sehr großen Umfangs verwalten kann. Grundvoraussetzung für die breite Akzeptanz eines neuen Formalsystems ist, daß der Großteil der geistigen Schwerarbeit der formalen Strukturierung und Verifizierung vom Computer erledigt wird. Die dazu nötigen Software-Hilfsmittel sind heute allgemein verfügbar (und im Leibniz-System teilweise implementiert): z.B. Hypertext, Real-time Syntax Check, Konsistenzprüfung, Wörterbuchhilfen wie Begriffs-Suche, Synonyme, Modellstrukturen, Auswahlangebote für Kontextstrukturen, kontextsensitive Hilfe-Funktion. Wenn es maschinelle Übersetzung gibt, ist keine Notwendigkeit mehr gegeben, ein einheitliches Codesystem für alle Menschen zu entwickeln, jeder kann in seiner Sprache weiter kommunizieren. Eine Textstruktur, die eindeutig von einem Computer geparst werden kann, läßt sich anhand eines Wörterbuchs komplett und eindeutig maschinell übersetzen.

11.5.3. Graphik ist nicht auf die Ebene der Worte beschränkt

Leibniz hat die chinesische Schrift für seine Characteristica so wichtig gehalten, weil er aus seiner damaligen Kenntnislage heraus ein logisches graphisches Konstruktionsprinzip der Schriftzeichen vermutete. Eine graphisch konstruierte Schrift muß nicht den Umweg zum Verständnis über das Lautbild und die damit verbundene stille oder laute Vokalisierung machen. Die Einsatzmöglichkeiten von graphischer Darstellung sind aber nicht auf die Morphem-Ebene beschränkt, sondern lassen sich auch auf der Satz- und Absatz-Ebene einsetzen. Satzzeichen sind graphische Komponenten der Schrift. Die chinesische Schrift hat zwar eine graphische Wortstruktur, aber die Satzstruktur ist linear. Man hat erst in neuerer Zeit die westliche Punktnotation für das Satzende eingeführt. Auch die europäischen Schriften kamen zuerst ohne Punkt und Komma aus. In der Antike wurden die Texte auf den Schriftrollen unterbrechungslos hintereinander geschrieben. Es gab keine Seiteneinteilung, und so mußte man notgedrungen einen ganzen Text von Anfang an lesen, um irgendeine Textstelle zu finden. Die textuellen Hilfsmittel wie Inhaltsverzeichnis, Kapitelüberschriften etc. sind erst im Mittelalter eingeführt worden. Sie wurden auch erst sinnvoll durch die Foliantenbindung der Bücher. Diese Hilfsmittel sind graphische Orientierungssysteme. Sie haben sich unter dem Begriff Typographie in den letzten Jahrhunderten weiterentwickelt. Man kann Typographie auch als graphische Methode zum visuellen Information Retrieval bezeichnen.

11.5.4. Software und graphische Notation

Die Zukunft graphischer Orientierungssysteme läßt sich an Beispielen aus der Programmierung zeigen. Die Konvention des sog. "pretty printing" ist eine graphische Aufbereitung auf der Ebene des Satzes, um die Lesbarkeit zu verbessern. Die Programmiersprache C weist eine besonders klare graphische Aufbereitung syntaktischer Elemente auf. Die Designer von C waren praktische Programmierer, die ihre Programmiersprache um die Limitationen der Hardware herum entworfen hatten. Zu den damaligen Zeiten (1970) mußte man noch mit Teletypes programmieren, und man vermied es daher geflissentlich, überflüssige Tastendrücke zu machen. Von daher hat C seine "elegante", nach anderer Meinung aber "kryptische" Syntax. Man hatte damals mit sicherem Instinkt eine pseudo-graphische Klassifizierung der strukturierenden Zeichen gemacht, die mit den überaus primitiven Mitteln des ASCII Codesatzes möglich war. Die Zeichen { und } sind Markierungen für Anfang und Ende von Programmblocks. Sie unterscheiden die Programmstruktur graphisch deutlich von den alphabetischen Funktionsnamen. In Pascal sind Programmblocks alphabetisch mit "begin" ... "end" ausgedrückt. Man muß in Pascal den Text also erst lesen und die Worte verstehen, bevor man Programmblocks erkennen kann. Vom Standpunkt einer graphischen Codierung ist die C-Syntax daher vorteilhafter. Mit Einrückungen werden genestete Programmblocks graphisch markiert. Das graphische Bild eines Programmteils gibt also die logische Grobstruktur wieder, und gibt dem Programmierer eine wesentliche Hilfe beim Verstehen des Programms. Hier ein Beispiel:
ctlxrp(f, n)
{
if (kbdmode == STOP)
{ mlwrite("%%Macro not active");
return(FALSE);
}
if (kbdmode == RECORD)
{ mlwrite("[End macro]");
kbdmode = STOP;
}
return(TRUE);
}
Die obige Programmstruktur ist identisch mit der unteren. Es bedarf keines zweiten Blickes, um die Nützlichkeit des pretty printing zu erkennen.
ctlxrp(f, n){if (kbdmode == STOP){mlwrite("%%Macro not active"); return(FALSE);}
if (kbdmode == RECORD) {mlwrite("[End macro]");kbdmode = STOP;}return(TRUE);}
Die relative Einfachheit, mit der wir einen normalen Fließtext lesen, täuscht uns über die ungeheuer komplexen Verständnisprozesse hinweg, die unser autonomes Sprachsystem vollziehen muß, um praktisch simultan während des Subvokalisierens eines gelesenen Textes eine Bedeutungsstruktur aufzubauen. Diese Komplexität ist erst in den letzten 20 Jahren mit der Arbeit an der Computeranalyse von Texten offenbar geworden. Erst wenn wir ein ungewohntes Beispiel sehen, wie das obige in einer Programmiersprache, stellen wir fest, wieviel Unterschied eine graphische Aufbereitung eines Textes ausmachen kann. Es würde einen ungeheuren Vorteil in der Lesbarkeit und automatischen Auswertung von normalem Text ausmachen, wenn eine solche Formatierung maschinell machbar wäre.

11.5.5. L3, die Lingua Logica Leibnitiana

Im Augenblick sind die Ziele von L3 noch nicht auf die Konstruktion einer vollständigen logischen Sprache im Sinne der Characteristica gerichtet, sondern eher auf das, was mit den heute möglichen Computerhilfsmitteln ökonomisch machbar ist. Es wird hierbei von einem Minimalanspruch an die Technologie ausgegangen, also PC mit Characterdisplay. Ein derartiges System muß preisgünstig für Schulen und in der dritten Welt einsetzbar sein. Die Entwicklung des Leibniz Software-Systems hat einen Erfahrungsschatz von 10 Jahren Experimentation mit Mensch-Computer-Interaktionssystemen geschaffen, der von der Programmierung auf allgemeinere Zwecke übertragen werden kann. Nehmen wir dazu als Beispiel einen Satz aus dem obigen Text:

Leibniz hat die chinesische Schrift für seine Characteristica so wichtig gehalten, weil er aus seiner damaligen Kenntnislage heraus ein logisches graphisches Konstruktionsprinzip der Schriftzeichen vermutete.


:DEF L1 // Wir definieren eine Aussage L1
{S NAM:Leibniz // Subjekt ist Leibniz, des Typs NAMe
{V V:T1.vermuten // Verbalphrase vermuten, T1 ist Vergh.
{A1 damalige Kenntnislage}
{A2 logisch graphisch Konstrukt-Prinzip chines Schriftzeichen}
}
}
// hier ist kein :DEF nötig, wenn kein weiterer Bezug auf die Aussage genommen wird.
{S S:IDENT // Wiederholg des Subjekts aus :def L1
{V V:T1.wichtighalten // Verbalphrase wichtighalten, Vergh.
{A1 chinesisch Schrift } // Ergänzg 1 für Verbalphrase
{A2 für Characteristica} // Ergänzg 2 für Verbalphrase
}
{CAUSAL DEF.L1} // Bezug auf L1
}
Dies ist die graphischen Darstellung der grammatikalischen Analyse des Beispielsatzes mit einer Phrasenstrukturgrammatik. Die Morphologie der Begriffe soll anhand von V:T1.vermuten demonstriert werden. Es soll nur das Konstruktionsprinzip gezeigt werden, nicht die linguistische Kategorisierung. Es handelt sich hierbei um eine alphanumerisch-graphische Mischform, um ein sog. Matrixwort. Das "vermuten" ist der Begriffsteil, der einen Assoziationsanker für den Sprecher der natürlichen Sprache darstellt. Dieser Teil ist für jede Nationalsprache austauschbar. Man muß also kein neues Vokabular lernen. Der Strukturteil oder Grammatikteil ist graphisch abgetrennt durch die Zeichen ":" und ".". Es sind weiterhin noch ";" und "," möglich, aber eine solch umfangreiche Kategorisierung ist selten nötig. V: bedeutet Verbform, T1 ist Tempus 1, also Vergangenheit. Treten mehrere Tempusformen in einem Kontext auf, so kann über verschiedene numerische Werte eine temporale Ordnung eingeführt werden.

11.6. Bibliographie


Conze, Edward
Buddhist Wisdom Books
Diamond Sutra and Heart Sutra
Allen & Unwin, London 1958
Conze, Edward
Der Buddhismus, Wesen und Entwicklung
Kohlhammer, Stuttgart
Derrida, Jaques
Grammatologie
Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974
Flusser, Vilem
Die Schrift
Immatrix, 1990
Frauwallner, Erich
Die Philosophie des Buddhismus
Akademie-Verlag, Berlin 1958
Günther, Gotthard
Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik
Felix Meiner Verlag
Hamburg 1978, 2. Auflage
Haarmann, Harald
Universalgeschichte der Schrift
Campus, 1992
Streng, F.
Emptiness, A Study in Religious Meaning
Abingdon Press, Nashville, New York 1967
Seite: 79
Volkmann, Helmut
"Mehr als Informationsgesellschaft"
gdi impuls 2/91
"Gefragt sind Visionen, keine Ideologien"
Südd. Zeitung, 9./10.10.1993
"Vom Nutzen der Zukunftsforschung"
Zukünfte Nr. 2, 4/92
"Städte erleben und Wissen erlangen"
Dr. Helmut Volkmann, Siemens AG, ZFE ST IS, 81730 München
Widmaier, Rita
Die Rolle der chinesischen Schrift in Leibniz' Zeichentheorie
Franz Steiner, Wiesbaden, 1983
Whitehead, Alfred North
Science and the Modern World
Lowell Lectures 1925
The Macmillan Company
Ed. The Free Press, New York 1967
Whitehead, Alfred North
Process and Reality
The Macmillan Company
Ed. The Free Press, New York 1969
Whitehead, Alfred North
Modes of Thought
The Macmillan Company
Ed. The Free Press, New York 1968


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