Previous Next Title Page Index Contents Site Index


3. Für ein Neo-Baconsches Programm:
Notwendigkeit, Möglichkeit, und Realisierungs-Chancen
für Unkonventionelle Paradigmen
multimedialer Wissens-Repräsentation und -Verarbeitung


AG-Schrift-Code: Neuro-Bacon

Copyright (c): Dr. Andreas Goppold, München & Ulm, Aug. 2001

3.1. Abstract

Ausgangspunkt der These "Für ein Neo-Baconsches Programm" ist: Die Balance zwischen dem menschlichen Neuronalsystem und dem technischen Medium der Schrift, auf dem die bewährten "Wissens"-Systeme der vergangenen Zivilisations-Epoche beruhten, ist zusammengebrochen. Sowohl alphabetische wie auch mathematische Aufschreibsysteme weisen gravierende Defizite auf. Angesichts der existierenden und beständig neu generierten ungeheuren Masse schriftlicher Daten ist die menschliche Schrift-Verarbeitungskapazität hoffnungslos inadäquat. So ist heute der "Point of no return" überschritten, jenseits dessen jedes "Mehr Desselben" von Schrift-basierter "Wissens"-Speicherung effektiv einen "Wissens"-Verlust für die Menschheit bedeutet. Fazit: Für organisierte Wissens-Repräsentation und -Verarbeitung haben die Aufschreib-Medien der vergangenen Zivilisations-Epoche ausgedient. Das ist das Hauptargument, warum man heute an "Unkonventionellen Paradigmen von Wissens-Repräsentation" nicht mehr vorbeikommt. Ein Neo-Baconsches "Novum Organon" muß mit denselben Grundfragen beginnen, die auch Bacon stellte, natürlich mit Blick auf den heute herrschenden Kontext, der ja gerade durch die erfolgreiche Anwendung des ersten Baconschen Programms geschaffen wurde. Wie leider so oft in der Welt, scheint auch hier der fortgesetzte Erfolg letztlich der Grund für den Untergang zu sein. Es ist an der Zeit, fundamentale Fragen nach Gedächtnis, Wissen, und Erkenntnis neu zu stellen und zu überdenken. Dies betrifft insbesondere die Anpassung von Aufzeichnungs-System und Neuronal-System, eine "Adequatio Neuro et Medio". Mit der heute zur Verfügung stehenden Multimedia-Technologie lassen sich alternative Denk-Unterstützungs-Systeme konzipieren.

3.2. Aphorismen zu unkonventionellen Paradigmen des Wissens

Im Folgenden sollen im Bacon'schen Aphorismus-Stil einige Argumentations-Punkte zur Notwendigkeit und Möglichkeit "Unkonventioneller Paradigmen multimedialer Wissens-Repräsentation und -Verarbeitung" dargestellt werden. Es dreht sich um den Versuch, neue Medien-theoretische und Medien-technische Grundlagen des "Wissens" [30] zu entwerfen, die die Kapazitäten des menschlichen Neuronalsystems besser berücksichtigen als die konventionell verwendeten Systeme. Es ist die Ansicht des Autors, daß im allgemeinen Siegeszug des wissenschaftlichen Systems [31] des "Baconschen Zeitalters" (Böhme 1993) dieser Aspekt sozusagen "unter die Räder" gekommen ist. Ein wesentliches Ziel von Bacons Programm war die Verbesserung der "Conditio Humana", und es ist zu fragen, was davon realisiert ist, und was offengeblieben ist. [32] Insbesondere geht es um die Suche nach anderen (neuen oder alten) Formen zur Erlangung und Vermittlung von lebenspraktischem, handlungsrelevantem Wissen. Im Folgenden soll diese Wissensform auch LHWissen genannt werden. (Siehe Böhme 1993, S. 109-113).

Die hier vorgetragenen Überlegungen basieren auf dem o.g. Text von G. Böhme, mit dem Ziel der Weiterführung in die angedeutete multimedial-neuronale Richtung. Eine ebenfalls relevante neuere Diskussion der neuen Bedeutung des Wissens-Faktors findet sich in Rifkin (2000). Für weitere Vertiefungen wird auf eine umfangreiche WWW-Textbasis von ca. 10 MB verwiesen, die auf folgenden URLs verfügbar ist:
(URL) (CD_local) http://www.noologie.de/
(URL) http://www.bib.uni-wuppertal.de/elpub/fb05/diss1999/goppold/

3.3. Das Epitaph zum "Ende des Baconschen Zeitalters"

Die Mächtigkeit des heutigen wissenschaftlichen Systems steht außer Zweifel. Was allerdings sehr viel schwerer auszumachen ist, sind seine systematischen Grenzen und Unzulänglichkeiten. So könnte das Epitaph zum "Ende des Baconschen Zeitalters" mit einer sehr ähnlichen Einleitung beginnen, wie die, die Bacon seinem "Novum Organon" vorangestellt hat: "Da nun vermeintlicher Reichtum zu den Hauptursachen der Armut gehört und im Vertrauen auf die Gegenwart die wahren Hilfsquellen für die Zukunft vernachlässigt werden, ist es dienlich... daß ich ganz offen das Übermaß an Verehrung und Bewunderung der bisherigen Erfindungen einschränke".

3.4. Die wissens-ökologische Krise

Nach der vorliegenden These ist es unübersehbar, daß das Wissen selber sich in einer wissens-ökologischen Krise befindet (frei nach G. Bateson und P. Finke). Dies läßt sich mit einem ausgezeichnet passenden "geflügelten" Wort von Helmut Spinner bildlich verdeutlichen: Der "Flugzeugträger des Wissens" (des heutigen Wissenschafts-Betriebs) ist so randvoll mit Waffen und Munition beladen, daß er manövrierunfähig geworden ist und zu sinken droht. Da hilft es auch nichts mehr, wenn die Versorgungs- und Erkundungsflugzeuge noch so viel neues Material heranschleppen. Die abendländische Wissenschaft ist "flügellahm" geworden, und die Gesellschaft, die das Unternehmen Wissenschaft finanziert, reagiert mit diffusem Mißtrauen. [33] Hier soll argumentiert werden, daß das Mißtrauen berechtigt ist, und daß eine wirkliche Strukturkrise vorliegt, die ein Weitermachen mit "Noch mehr von Demselben" verbietet.

3.5. Wissen als Machtinstrument im "Kampf der Kulturen"

Eine Debatte um "Unkonventionelle Paradigmen von Wissens-Repräsentation" setzt voraus, daß ein Paradigmenwechsel des "Wissens Überhaupt" gedacht werden kann, und darf. Das ist aber nicht selbstverständlich, denn eine rein institutionelle Definition von "Wissen := Das, was der heutige Wissenschafts-Betrieb generiert und verwaltet" würde abweichende Ansätze sofort als "unwissenschaftlich" diskurs-unfähig machen. Im konkreten Fall dreht es sich um das Problem, daß der "Wissens"-Begriff des heutigen wissenschaftlichen Systems nur durch dieses System selber validiert wird, frei nach dem alten Limerick: "I am the dean of this college, and what I don't know, isn't knowledge". [34]

Die heutige Medien-Überflutung der Menschheit (z.B. im WWW und auf den Fernseh-Kanälen) mit "Informations"-Materialien aller Arten, Mengen, und Güten (Spinner) deren Gesamtwirkung man am besten als Nadel-im-Heuhaufen-Effekt bezeichnen kann, ist ein Symptom der heutigen Krise des "Wissens", von der auch die Wissenschaften erfaßt sind. Die gesellschaftliche Relevanz und Einfluß von "Wissen" ist stark interdependent mit Einfluß auf und Kontrolle über die (knappen) Informations-Ressourcen. Diese Wissens-Medialen Interdependenz-Faktoren haben sich in den letzten ca. 400 Jahren seit Bacon's "Novum Organon" fundamental geändert. Im Gegensatz zu früheren Zeiten ist heute die knappste Ressource die menschliche Lebens- und Arbeits-Zeit, um das bunt durchgemischte Material zu sichten und zu verarbeiten.

Ein Teil des Problems ist politisch: Es zeigt sich z.B. an der oft geäußerten Meinung, daß die "Wissen=Macht" Verflechtungen wissenschaftlicher Institutionen, mit Macht-Konzentrations-Komplexen, z.B. dem Militär und den Globalkonzernen, an den Lebensinteressen der Menschen vorbeigehen (oder ihnen sogar zuwiderlaufen). Der Groß-Wissenschaftsbetrieb ist notwendiger Bestandteil eines funktionalen Macht-Selbsterhaltungs-Systems geworden, das starke strukturelle Ähnlichkeit mit dem einzementierten Aristokratie-Kirche-Macht-System des Ancien Regime hat, gegen das die Aufklärer des 16.-18. Jh. ankämpften. Wissens-Verfügbarkeit hat den emanzipatorischen Charakter verloren, den z.B. die Encyclopaedisten anstrebten, oder der von einem Wissens-Unternehmer-Typus wie Benjamin Franklin verkörpert wurde. [35]

Die hier aufgestellten Thesen sind bewußt etwas polemisch formuliert, und laden somit herzlich zum Widerspruch ein. Aber die Polemik ist beabsichtigt: Denn sie trifft einen Nerv des Systems, auf den hier unbedingt hingewiesen werden muß: Eine Argumentation im Bannkreis "Unkonventioneller Paradigmen von Wissens-Repräsentation" muß notwendigerweise gewisse Aspekte eines Kulturkampfes von fundamental (-istisch) Huntington'schen Format haben. Der vielzitierte C.P. Snow'sche Graben [36] erscheint in diesem Kontext eher irrelevant, und reflektiert eher nur Verteilungskämpfe von rivalisierenden Decksmannschaften des Baconschen "Flugzeugträgers des Wissens". Das ist nur zu verständlich, wenn einige dieser Mannschaften unmutig sind, daß ihnen seit Jahren die Mittel gekürzt werden, wärend sie anderen Mannschaften immer reichlicher zufließen.

Der hier angedeutete "Kulturkampf der Wissens-Repräsentation" wurde zu früheren Zeiten mit allen Mitteln von "Feuer und Schwert" geführt, denn die "intellektuelle Enthauptung" eines zu unterwerfenden Volkes war schon immer das bewährteste Mittel einer Eroberer-Clique gewesen, um sich ihre "Subjecte" gefügig zu machen. Die spanische Eroberung Latein-Amerikas gibt hierfür das beste Beispiel. [37] Heute sind solche Taktiken zwar weniger blutig, aber genauso wirkungsvoll: In jedem beliebigen Dritte-Welt Land ist eine erfolgreich durchgeführte Alphabetisierungs-Kampagne gleichzeitig eine Vernichtungsaktion indigenen "Wissens" und führt mit zielstrebiger Sicherheit in eine Abhängigkeits- und Ausbeutungsfalle der jeweiligen Bevölkerungen zum Wohle ihrer (an westlichen Universitäten) gebildeten Experten-Eliten. (S.a. Schriften von P. Kropotkin und Ivan Illich). Frühere Priester- und heutige wissenschaftliche Eliten grenzen sich erfolgreich durch das altbewährte Patentrezept der Laifizierung des gemeinen Volkes ab. [38] Weitere heutige Strategien: Mittels Patentierung soll heute das genetische Erbe des Planeten in eine globale Hegemonie überführt werden. Die US-Software-Patentierung setzt noch einen weiteren Meilenstein eines mit allen Mitteln unvermindert geführten globalen intellektuellen Hegemonie-Kampfes. Mithin hat die hier dargestellte Krise des westlichen "Flugzeugträgers des Wissens" nur umständehalber etwas mit dem Baconschen System zu tun, insoweit als der Bacon zugeschriebene Ausspruch "Wissen ist Macht" [39] wohl am treffendsten den Charakter heutiger (Militär-) Macht-Koalitions-Systeme beschreibt, in denen die Wissenschaft die ihr zukommende Rolle spielt.

3.6. Das Wissen droht in den Daten zu versinken...

Haupt-Alarm-Symptom des allmählich versinkenden "Flugzeugträger des Wissens" ist die unangenehme Eigenschaft von "Wissen", daß es immer in irgendwelche Träger-Materialien eingepackt sein muß, den sog. "Daten", um von Mensch zu Mensch vermittelt werden zu können. [40] Diese Daten haben ein eigenes Gesicht, nicht nur in Kilogramm, sondern vor allem in Lebenszeit. Denn die Lebenszeit eines Menschen reicht nicht mehr aus, um mehr als einen winzigen Bruchteil der in Millionen von Büchern gespeicherten "Daten" zu verarbeiten, um für sich selber und seine Mitmenschen LHWissen daraus zu generieren. Ein Mensch kann zwar mit seiner enormen Gehirn-Kapazität sehr viel LHWissen bewahren, aber seine Kapazität der "Daten-Verarbeitung", um in Druckwerken enthaltenes "Wissen" aufzunehmen, ist lächerlich gering. Max. ca. 50 Zeichen pro Sekunde ist die menschliche Lesegeschwindigkeit, und auch das gilt nur für sehr kurze Zeitspannen von max. etwa einer Stunde. [41] Die Grenzen der menschlichen symbolischen Verarbeitungskapazität werden durch die schiere Masse des angehäuften wissenschaftlichen Materials überfordert. Die heutige extreme Spezialisierung ist ein Symptom dieses Zusammenbruchs, aber kein Mittel zur Abhilfe. Für dieses Grundproblem haben die Wissenschaften leider keine praktikable Antwort gefunden, und es scheint (trotz vieler Lippenbekenntnisse) auch keine konkreten Anstrengungen zu geben, das konsequent auf seine Ursachen hin zu untersuchen. Denn die "Manifest Destiny" der Wissenschaften seit ihrem Beginn besteht darin, mehr und mehr beschriebenes Papier zu produzieren, mit der logischen Kulmination des heutigen "Publish or Perish" Systems. Hier zeigt sich eine tiefe Strukturschwäche des Bacon'schen Programms, der ja den Buchdruck als eine der drei großen weltgeschichtlichen Erfindungen pries. [42] Da die Datenflut als Folge des "Publish or Perish Prinzips" ein Struktur-Element der Wissenschaften ist, kann sie anscheinend nicht mit den Mitteln dieser Wissenschaften behandelt oder behoben werden. Ethnologisch gesehen, handelt es sich um eine "Totem- und Tabu-Zone" des Wissenschafts-Systems. Denn nur die Wissenschaftler, die nach den Gesetzen des "Publish or Perish Prinzips" die erfolgreichsten sind, gelangen an die politisch relevanten Schaltstellen (z.B. DFG- und andere Mittel-Verteilungs-Kommissionen), und entscheiden über den weiteren Kurs des "Flugzeugträgers des Wissens". Und hier wäre es naheliegend, nach Selbst-Immunisations-Phänomenen zu suchen, und Vergleiche mit anderen gesellschaftlichen Macht-Selbsterhaltungs-Systemen zu ziehen, etwa mit einem staatlichen Polizei-System, dessen Selbsterhaltungs-Interesse verletzt wäre, wenn auf einmal die Kriminalität verschwinden würde, oder das medizinische System, das plötzlich seiner sicheren Einnahmen beraubt wäre, wenn die Kranken plötzlich ausbleiben würden. [43]

Wenn wir uns dann doch entschließen, nach den fundamentalen Ursachen zu suchen, so finden wir ein grundsätzliches Problem: Der "Adequatio Neuro et Medio", um einmal einen bekannten philosophischen Begriff auszuborgen. Das menschliche Neuronalsystem wird vom medialen System unserer technologischen Zivilisation hoffnungslos überladen, überlastet, und überfordert. Dies war schon vor 300 Jahren, zur Zeit von Leibniz, mit großer Sorge bemerkt worden, und Leibniz als Direktor einer der größten Bibliotheken seiner Zeit, in Wolfenbüttel, hatte schon die Zeichen an der Wand erkannt.

3.7. Erweiterung der Grenzen des wissenschaftlichen Wachstums

Die Wissenschaft weist seit 1660 ein stetiges exponentielles Wachstum auf. (Böhme 1993, S. 213). Wie mit dem ökologischen Beispiel des Wachstums von Wasser-Hyazinthen in einem Teich leicht klar gemacht wird, kann ein solches Wachstum nicht endlos weitergeführt werden. Hier ist der limitierende Faktor die gesellschaftliche Aufnahmefähigkeit und Verwertbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse. Wie oben angedeutet, ist der "Point of no return" wohl schon überschritten, jenseits dessen jedes "Mehr Desselben" von Schrift-basierter "Wissens"-Speicherung effektiv einen "Wissens"-Verlust für die Menschheit bedeutet. Eine grundlegende Verbesserung dieser Situation ließe sich nur mit optimierten Systemen zur Wissens-Repräsentation und -Verarbeitung erreichen. Daher muß vorrangig vor der Produktion von neuen Wissenschafts-Daten an diesem Problem gearbeitet werden.

3.8. Kernthema des Neo-Baconschen Programms: Erlangung und Vermittlung von lebenspraktischem, handlungsrelevantem Wissen.

Ein Vergleich der Problematik des Real existierenden Wissen(schaft)s-Systems mit dem Bergbau ist illustrativ. [44] LHWissen, also lebenspraktisches, handlungsrelevantes, und subjektiv verfügbares Wissen ist wie ein Edelmetall, das in einem Träger-Material eingeschlossen ist, und erst extrahiert werden muß. Diesen Prozess nennt man auch Verstehen. Nur Wissen, das man Verstanden hat, kann man auch anwenden (eine Binsenweisheit). [45] Um solches Wissen zu erlangen, muß man entweder durch Experiment die Natur selber befragen, oder in Wissens-Repositorien (Bibliotheken) nach vorhandenen Lösungen suchen. Wird aber dieser Zugang immer schwerer, etwa aufgrund der extremen Spezialisierung der Wissenschafts-Sprachen und -Dialekte und aufgrund eines Übersättigungs-Effekts, bei dem man Hunderte oder Tausende von Büchern lesen müßte, um das benötigte Wissen zu erlangen, ist es irgendwann nicht mehr lebenspraktisch verfügbar, obwohl es natürlich physikalisch (wie das Edelmetall in den Massen des Erdreichs) immer noch vorhanden ist.

Das hier intendierte Neo-Baconsche Programm stellt sich die obige Frage als Kernthema. Damit soll auch auf die Spektrums-Diskussion "Die Wahrheit in der Wissenschaft" angesprochen werden. [46] Daß LHWissen auch wahr sein sollte, ist eine selbstverständliche Grundvoraussetzung. In der o.g. Diskussion wird eine alte Debatte wieder aufgewärmt, die uns aus der Heiligen Schrift überliefert ist: Das Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Wirklichkeit. Die Wahrheit darf den Aspekt der Lebenspraxis nicht verlieren. Und Lebenspraxis ist Wirklichkeit. Eine absolute Wahrheit im Siebten Platonischen Himmel mag zwar als ethisch/ ästhetisches Fernziel zu den Leitsternen eines universalen Wissenschafts-Ethos gehören, aber wenn sie nicht in Wirklichkeit verfügbar ist, dann muß man sich ernsthaft Gedanken über den Sinn der Unternehmung machen.

3.9. Ziel der politischen / demokratischen Steuerbarkeit des "Wissens"-Systems

Der heutige Wissenschafts-Betrieb finanziert sich nach drei Modellen:
1) Über Investition der Industrie, mit dem primären Ziel der maximalen Profit-Generierung,
2) über Kriegsforschung, insb. des US-Pentagon, und
3) über andere staatliche Institutionen.

In Fall 1) und 2) ist es eher nicht das Ziel, ein gesellschaftlich möglichst breit verfügbares LHWissen zu generieren.

Nur im Fall 3) kann eine solche Zielvorstellung überhaupt formuliert werden. In einer Zeit der immer weiter zurückgedrängten Macht des Staates ist hier eine große Chance zu sehen: Daß sich die staatlichen Kräfte darauf besinnen, was ihre eigentliche Aufgabe ist: Den Menschen zu dienen, die in den Territorien dieser Staaten leben. Die globale Industrie kann ihre Forschungen sehr gut selber finanzieren, sind doch schon viele Global-Konzerne reicher und mächtiger als ein Großteil der Staaten auf diesem Planeten. Daher muß es Hauptaufgabe der staatlichen Institutionen sein, neue Formen von LHWissen zu entwickeln. Nur mit breit verfügbaren LHWissen lassen sich die kreativen Potentiale der Bevölkerung aktivieren, so z.B. auch in Richtung besserer Demokratie-Modelle. Denn Demokratie ist entscheidend von breit verfügbarem Basis-Wissen abhängig, ansonsten verkommt sie zu einem Plebiszit-System. In den meisten heutigen Entscheidungs-Fragen haben die Menschen keinerlei Kompetenz mehr, überhaupt die Folgen bestimmter politischer, technischer, und wissenschaftlicher Programme abzuschätzen, daher kann es auch keinerlei demokratische Entscheidungen mehr darüber geben. Dasselbe gilt für die Politiker, die ebenfalls nicht mehr die Langzeitfolgen ihrer Entscheidungen überblicken können.

3.10. Nutzen und Notwendigkeit von Utopien

Es ist klar, daß ein Weiterdenken des Baconschen Programms entlang seiner Neu-Atlantis-Entwürfe eine Utopie ist, angesichts der Kräfte, die die heutigen wissenschaftlich-technisch-kapitalistischen Gesellschaften vorantreiben. Die Steuerungs-Systeme der Staaten, deren politische Strukturthemen und Leitmotive noch der Epoche des 18. und 19. Jh. entstammen, sind längst durch die Macht des Faktischen, etwa der "Globalisierung", ausgehebelt worden. Eine politische Steuerbarkeit des "Wissens"-Systems erscheint als völlig undurchführbar. Daher könnte man auch die Beschäftigung mit dem hier dargestellten Thema als utopisch und sinnlos ansehen. Aber die Welt befindet sich in einer zunehmenden Non-Linearisierung, und in diesem Prozess können auch die altbewährten Regeln und Gesetze dieser Welt schnell ihre Wirkung und Gültigkeit verlieren. Insofern kann etwas, was gestern noch pure Utopie war, schnell sehr real werden. Es ist nötig, sich auf solche rapide umschwingende und umspringende Referenz-Rahmen einzustellen, ebenso wie es nötig ist, sich auf ebensolche Instabilitäten des Welt-Klimasystems einzustellen. Die Biosphäre als ganzes ist in ein Instabilitäts-Stadium eingetreten, das von H.P. Duerr (Global Challenges Network) anschaulich mit dem drei-achsigen Chaos-Pendel demonstriert wird.

3.11. Der drohende Zusammenbruch der Biosphäre

Das alte Baconsche Programm hat im Rahmen der Biosphäre zu einer krebsartigen Vermehrung (Hypertrophie) desjenigen Anteils der Biomasse geführt, der auf zwei Beinen läuft, und sich "Mensch" nennt. (Plus seiner Haus- Nutz- und Parasitentiere wie Hunden, Kühen, Schweinen, Ziegen, Ratten, [47] Fliegen und Küchenschaben, und Pflanzen wie: Getreide, Reis und Mais, Sojabohnen und Gras). Gleichzeitig wird der Rest der Biosphäre extrem ausgedünnt, angefangen vom Kahlschlag der Wälder, und Überfischung der Ozeane, sowie allgemeine Wüsten-Bildung auf den Kontinenten. Dadurch ist die Biosphäre außer Balance geraten. Zwar ist das Auftreten des Menschen erd-geschichtlich einmalig, aber ähnliche biosphärische Runaway-Phänomene hat es schon öfter gegeben. Sie waren dann unweigerlich der Anlaß zu den sog. Mass-Extinction Phänomenen in der Erdgeschichte, bei denen bis zu 90% der Arten verschwanden. Heute neigt ein Konsensus der Wissenschaft zwar eher dazu, kosmische Ursachen der Mass-Extinction zu postulieren, wie Meteoriten-Einschläge, aber es lassen sich genügend Hinweise für rein "hausgemachte" Ereignisse finden. Die Biosphäre ist keinesfalls als "all-weise Mutter Gaia" anzusehen, die sich sorgsam um ihre eigene Erhaltung, und die ihrer Lebewesen kümmert. Im Gegenteil: Das heutige Runaway-Phänomen der Menschheit ist typisch für ein bestimmtes exzentrisches Verhalten der Biomasse des Planeten selber. Denn die Menschen sind und bleiben Biomasse, egal, was sie selbst von sich dünkeln.

Hierzu weiteres Material unter: "Die Einbettung der Menschheit in die biosphärische Matrix"
(URL) (CD_local) http://www.noologie.de/neuro09.htm

3.12. Der ökologische Run-Away Effekt der Biomasse "Mensch"

Man kann die Menschheit in vier Gruppen einteilen:

1) Einige hundert Millionen Menschen, diejenigen, die sich mit Leib und Seele der Weiterführung und Maximierung des heutigen wissenschaftlich-technisch-kapitalistischen Systems verschrieben haben. Diese verkörpern den blinden, autokatalytischen Prozess, der durch das alte Baconsche Programm entfacht wurde. Man kann sie kollektiv auch als globalen Tyranno-Anthropos-Rex ansehen, der dabei ist, sich und die Biosphäre zu vernichten.

2) Die große Mehrheit der Menschheit, die aus Mangel an Denk- und Handlungs-Alternativen der ersten Gruppe folgt.

3) Eine wachsende Minderheit, der klar ist, daß der bisherige Kurs der Menschheit unvermeidlich an den Grenzen der biosphärischen Belastbarkeit des Planeten scheitern wird. Es ist keine Frage mehr, ob, sondern nur wann. Aber diese Minderheit ist hoffnungslos zersplittert in Tausende von Grüppchen, die in nichts anderem übereinstimmen, als dem obigen Satz. Dieses Spektrum reicht von "zurück-zur-Natur" Utopien bis zu allen Spielarten von technokratisch gelenkten Konsum-Limitierungs Global-Totalitarismen, die hier unter dem Sammelnamen Ökokratisch-Technopol-Totalitarismus zusammengeführt werden sollen. Diese Ansätze sind meist wohlgemeint, aber sie haben keine Aussicht auf Erfolg. Und wenn sie Erfolg haben und einen ökologischen Global-Totalitarismus verwirklichen, wird das für viele nicht erfreulich sein. Dies würde einer weitgehenden Realisierung eines menschlichen Ameisen- oder Termiten-Systems entsprechen.

4) Etwa eine Mrd. Menschen in beständigem Überlebenskampf, die "Verdammten dieser Erde" (Fanon), diejenigen, die die Hauptleidtragenden dieser Entwicklung sind, die im Massen-Elend in den Slums der wuchernden Multi-Mega-Metropolen oder auf ausgedörrten Feldern oder untergehenden Inseln und Flußlandschaften beständig vom Massentod bedroht sind, und die keinerlei Perspektive haben, sich aus dieser "Hölle auf Erden" zu befreien. Unter diesen Menschen machen sich zunehmend Fundamentalismus, Irrationalismus, und Faschismus breit. Hier ist die große Bewegung, die unerbittlich "gleiches Elend für alle" einfordert. Am sichtbarsten vielleicht im heutigen Afghanistan. Aber viele andere "Dritte-Welt"-Länder sind hierfür brauchbare Brutstätten.

3.13. Die hier vorgeschlagene Lösung:
Nur Wissen kann die Entartung von Wissen überwinden.

Das Prinzip heißt: Feuer mit Feuer bekämpfen. Das entfesselte wissenschaftlich-technisch-kapitalistische System kann nur mit einer Neu-Auflage des Baconschen Programms wieder "gebändigt" werden. Nur Wissen kann die Entartung von Wissen überwinden.

3.14. Fortsetzung folgt

Dies ist als offenes Programm intendiert, und seine Ausarbeitung soll bei gegebener Gelegenheit weitergeführt werden.


[30] "Wissen" wird durch die Apostrophierung in eine Husserlsche Epoché gesetzt, damit der hier verwendete Begriff nicht unreflektiert mit heutigen "wissenschaftlichen" "Wissens"-Definitionen gleichgesetzt wird. Hier soll auch eine neue Grenz-Ziehung des "Wissens" angestrebt werden. Siehe den weiter unten eingeführten Begriff des LHWissens.
[31] Um einer Verwechselung vorzubeugen: Die folgende Diskussion dreht sich mehr um gewisse Probleme des Real Existierenden Wissenschafts-Betriebs als gesellschaftlicher Institution, und weniger um das Prinzip von "Wissenschaft" als solches. Ebenso wie die Katholische Kirche nicht mit der Christlichen Religion zu verwechseln ist.
[32] Angefangen mit Bacons Aphorismus 1, 2, 6, 14, 16. Von den drei "großen" Erfindungen nach Bacon, Kompaß, Schießpulver, Buchdruck, sind die letzten beiden aus heutiger Sicht eher als "mixed blessing" anzusehen. Weiter wären zu untersuchen Bacons soziologische Ansätze, die in "Neu-Atlantis" formuliert worden waren. Weitere ansätze dazu in der Diskussion von G. Böhme (S. 13-24). Es hat allen Anschein, daß die menschlichen Gesellschaften mit dem Baconschen Programm in einen circulus vitiosus geraten sind, bei dem ein militärischer und technischer Konkurrenzkampf der Gesellschaften immer weitere Forschung erzwingt, aber die positiven Ergebnisse durch verschiedene Arten des "Revenge Effect" (Tenner) wieder zunichte gemacht werden. Damals lebte etwa 1 Mrd. Menschen auf der Erde, heute sind es 6, von denen mindestens 1 Mrd. unter unbeschreiblichen Lebensumständen vegetiert, die man nur als pure Hölle auf Erden beschreiben kann.
[33] Siehe Jürgen Mittelstraß: "Wissenschaftskommunikation: Woran scheitert sie?", Spektrum der Wissenschaft, 08-2001, 82-89.
[34] Siehe: (URL) (CD_local) http://www.noologie.de/symbol09.htm
Weitere Diskussion über Ausgrenzungs-Strategien aus dem Pantheon der Wissenschaften,
z.B bei Böhme: S. 393-404. und Böhme: "Alternativen der Wissenschaft".
[35] "If you build a better mousetrap, the world will beat a path to your door".
[36] Der z.B. in der EuS Debatte um den "Informations"-Begriff beschworen wird. Siehe den nächsten Artikel.
[37] Dies ist ausführlicher dargestellt unter dem Stichwort Quipucamayoc Mnemotechnik, 15.6 in:
(URL) (CD_local) http://www.noologie.de/desn21.htm
oder dem Ausdruck der Dissertation, S. 173.
Nach dieser Hypothese hatten die Andenvölker das weltverbreitete Knoten-Notations-System für Mengen und Zahlen stark weiterentwickelt, daß es als multi-modales Kategorisierungs- und Strukturierungs-System einsetzbar war. Das war den Spaniern nur nicht aufgefallen, und da sie alles zerstörten, was in ihre Hände fiel, ist das heute kaum noch zu beweisen.
[38] (URL) (CD_local) http://www.noologie.de/symbol09.htm#Heading67
[39] Bacon hat das selber nie gesagt. Der philosophische Begriff "potentia" ist ein Äquivalent von "energeia" und kann nur im Zusammenhang von "actus et potentia" gelesen werden. In "Novum Organon", 3a steht "scientia et potentia humana in idem coincidant", was ein englischer Übersetzer so darstellt: "The roads to human power and to human knowledge lie close together, and are nearly the same". Ein typisches Beispiel des "Traduttore Traditore" Dilemmas.
[40] Siehe auch die Diskussion von H.W. Enders: "Der Ausdruck Information im Wissensfeld der Repräsentations-Notationen", FAW Ulm, 14.05.2001.
[41] Dann wird man meist von irgendwelchen unergründlichen Zwängen und Drängen getrieben (praktisch wie ein Zombie), entweder zum Kühlschrank zu gehen um sich etwas zu Essen oder ein Bier zu holen, oder den Fernseher anzuschalten, oder man greift zum Telefon, um einen Freund oder eine Freundin anzurufen. Die einzigen Menschen, die diesen unergründlichen Zwängen und Drängen etwas länger widerstehen können, sind Wissenschaftler und Juristen, aber das nur aufgrund eines intensiven Charakter- und Ausdauer-Trainings, das leider auch erhebliche psychische Nebenwirkungen zeigt. Um es in Anlehnung an eine bekannte Sottise auszudrücken: "Wenn Gott gewollt hätte, daß Menschen Druckmaterial in größerer Menge verarbeiten, hätte sie den Menschen mit einem eingebauten OCR-Gerät erschaffen."
[42] Die andere genannte bedeutende Erfindung, das Schießpulver, würde heute auch nicht mehr unangefochten als "große Segnung" der Menschheit anerkannt werden.
[43] Man schaue sich in jedem beliebigen Naturfilm etwa eine Antilopenherde an: Man wird keine kranken Tiere dort sehen. Dafür sorgen die Löwen als "Fitness-Inspektoren" der Antilopen schon zuverlässig.
[44] Siehe dazu die bekannte Szene von Goethe in Faust II, als Mephisto dem Kaiser vorschlägt, auf alle Schätze die unter der Erde in seinem Gebiet liegen, Schuldscheine := Papiergeld auszustellen, um so seine Finanz-Probleme zu lösen.
[45] Wobei man hier von verschiedenen Stufen des Verstehens sprechen sollte: Um ein Auto zu fahren, muß man nicht verstehen, wie das Auto funktioniert. Aber man muß auf neuronaler Ebene die wichtigsten kybernetischen und physikalischen Prinzipien des Kraft-Fahrens (und der Verkehrsregeln) internalisiert haben. Dies ist ebenfalls ein LHWissen, auch wenn es selten als solches gelistet wird.
[46] Spektrum der Wissenschaft, 07-2001, 70-74.
Wie in der o.g. Diskussion angeführt wurde, hat sich die Newtonsche Himmelsmechanik als praktisch brauchbar erwiesen, und sie ist strukturell konsistent, mit einer nachvollziehbaren Mathematik.
[47] Eingeschleppte Nutz- und Parasitentiere wie Ziegen, Ratten und Katzen sind z.B. Haupt-Verursacher der Ausrottung kleiner Tierarten auf Inseln.

Previous Next Title Page Index Contents Site Index