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11. Das Lehrgedicht des Parmenides


Die folgenden Textstellen bilden den Anfang des erhaltenen Textfragments von Parmenides. Der Titel "Vom Wesen des Seienden" wurde von BIB:PARMENIDES6 9 übernommen.

Vom Wesen des Seienden

B1 Die Pferde, die mich fahren so weit nur der Wille dringt, zogen voran, da sie mich auf der Göttin vielkündenden Weg gebracht hatten, der den wissenden Mann durch alle Städte führt. Auf diesem Weg fuhr ich; denn dort fuhren mich die kundigen Pferde den Wagen fortreißend; und Mädchen lenkten die Fahrt. Die Achse in den Naben gab einen hellen Pfeifton, glühend; so ward sie getrieben von zwei wirbelnden Rädern zu beiden Seiten, wenn schleuniger sich beeilten die Sonnentöchter, mich voranzufahren, hinter sich lassend das Haus der Nacht, dem Lichte zu, stoßend vom Kopf mit der Hand den Schleier.

Dort ist das Tor der Wege von Nacht und Tag, und ein Türsturz umschließt es und steinerne Schwelle. Das Tor selbst, aus Ätherlicht, ist ausgefüllt von großen Türflügeln. Zu diesem Tor aber hat Dike, die vergeltende, die ein- und auslassenden Schlüssel. Ihr nun sprachen die Mädchen zu mit sanften Worten und beredeten sie klug, daß sie ihnen den mit Bolzen versehenen Riegel geschwind vom Tor zurückschöbe. Das aber flog auf und machte weit den Schlund der Türflügel, indem es die erz-beschlagenen Pfosten, mit Zapfen und Dornen eingefügt, nacheinander in den Pfannen drehte. Dort also mitten hindurch gerade dem Wege nach lenkten die Mädchen Wagen und Pferde.

Und freundlich empfing mich die Göttin, ergriff meine Rechte, redete mich an und sagte das Folgende: Jüngling, Gefährte unsterblicher Lenkerinnen, der du mit den Pferden, die dich fahren, zu unserem Haus gelangt bist, Heil dir! Denn kein schlechtes Geschick sandte dich auf diesen Weg - er liegt wahrlich abseits vom Wandel der Menschen - sondern die Mächte des Angemessenen und Notwendigen. Du aber sollst alles erfahren, sowohl der überzeugenden Evidenz unerschütterliches Herz wie auch die Eindrücke der Menschen, die ohne evidenten Beweis sind; aber gleichwohl wirst du auch das hören, wie das Geltende notwendigerweise gültig sein mußte durch alle Zeit hin insgesamt...

Es ist für mich das Gleiche, von wo ich anfange; denn dahin kehre ich wieder.

B2 Ich werde also vortragen - du aber nimm dich der Rede an, die du hörst - welche Wege des Untersuchens allein zu erkennen sind.

Der eine, (der da lautet) "es ist, und Sein ist notwendig", ist der Weg der Überzeugung; denn sie folgt der Evidenz. Der andere, (der da lautet) "es ist nicht, und Nicht-Sein ist notwendig", der ist, wie ich dir zeige, ein völlig unerfahrbarer Weg; denn das Nicht-Seinende kannst du weder erkennen - denn das läßt sich nicht verwirklichen - noch aufzeigen. ... B3
Denn dasselbe ist Erkennen und Sein.
B6 Richtig ist, das zu sagen und zu denken, daß Seiendes ist; denn das kann sein; Nichts ist nicht: Das heiße ich dich bedenken. Denn zuerst halte dich von dem Weg des Suchens fern ... B7+8 Denn niemals kann das erzwungen werden, daß Nichtseiendes ist. Sondern von diesem Wege des Suchens halte du den Gedanken fern, und nicht soll dich die vielerfahrene Gewohnheit auf diesen Weg drängen, anzuwenden das unachtsame Auge, das dröhnende Gehör und das Sprechen, sondern argumentierend entscheide die streitbare Beweisführung, die von mir vorgetragen ist. Allein also noch übrig bleibt die Beschreibung des Weges "es ist". Und auf ihm gibt es sehr viele Zeichen, sofern Seiendes ungeworfen und ohne Vernichtung ist, ganz, einzig, ohne Schwanken und in sich vollendet.

Und nicht war es einmal, auch wird es nicht sein, da es zugleich ganz ist, eines, zusammenhängend. Denn welches Herkommen könntest du für es suchen? Wie und woher gewachsen? Weder "aus Nichtseiendem" werde ich dich sagen und (erkennend) denken lassen; denn weder sagbar noch erkennbar ist Nichtseiendes. Und welche Notwendigkeit hätte es auch veranlaßt später oder früher aus dem Nichts beginnend zu entstehen? So ist es notwendig, entweder ganz und gar zu sein oder nicht. Noch auch wird die Kraft des Beweises jemals zulassen, daß aus Nichtseiendem etwas neben ihm entsteht. Insofern hat weder zum Werden noch zum Vergehen Dike es in seinen Fesseln lockernd losgelassen, sondern sie hält es fest. Die Entscheidung hierüber aber liegt in der Alternative:
Es ist oder es ist nicht.

Und entschieden ist nun notwendigerweise, die eine Seite der Alternative unerkennbar und unsagbar zu lassen, denn sie ist nicht evident; die andere Seite aber als seiend und wirklich hinzunehmen. Wie aber könnte dann Seiendes... ? Wie könnte es werden? Wenn es nämlich wurde, ist es nicht; auch nicht wenn es einmal sein wird. So ist Werden ausgelöscht und unbekannt Verderben. Auch ist es nicht unterteilt, da es in seiner Gesamtheit gleichmäßig ist: und keineswegs ist es irgendwo mehr - was seinen Zusammenhang hindern könnte - noch etwa weniger, sondern ganz ist es voll von Seiendem. Demnach ist es ganz zusammenhängend; denn Seiendes stößt an Seiendes. Und unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln ist es ohne Anfang, ohne Ende, da Werden und Verderben in weiteste Ferne verschlagen sind; verstoßen hat sie der evidente Beweis. Als dasselbe und in demselben verharrend ruht es für sich und verharrt so fest auf der Stelle. Denn ein mächtiger Zwang hält es in den Fesseln der Grenze, die es rings umschließt, weil das Seiende nicht unvollendet sein darf: Denn es ist ohne Mangel; andernfalls wäre es nicht ganz... Dasselbe aber ist Erkennen und das, woraufhin Erkenntnis ist. Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es ausgesprochen ist, wirst du das Erkennen finden. Denn nichts anderes ist oder wird sein außer dem Seienden, weil Moira es gebunden hat.

Auszüge und Stellen aus: BIB:PARMENIDES7 4 und BIB:PARMENIDES6 9


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