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Die Logik der Lehre von der Leere:
Die Shunyata des Nagarjuna





AG-Text Code: @:SHUNYA.DOC

01.02.1994

Andreas Goppold



2. Die Wendezeit der Weltkulturen
3. Nagarjuna formuliert die Madhyamika-Lehre
4. Sein oder Werden, das ist hier die Frage
5. Das Prajnaparamita Sutra: Der Stein der Weisen des Nirvana-Denkens
6. Die Logik der Befreiung
7. Die Lehre Nagarjunas für die heutige Zeit
8. Die Weisheit in Freiheit
9. Die Archae: Gemeinsamer Urgrund westlichen und östlichen Denkens
10. Anmerkungen
11. Literatur



Zu dieser Arbeit ist im wesentlichen folgende Literatur verwendet worden:
BUDDH-CONZE58, BUDDH-FRAUW58, BUDDH-STRENG, BUDDH-SCHMIDT

1. Einleitung

Die folgende Untersuchung ist Teil eines größeren Projekts, das ich "Das Leerstellendenken" oder Kenomén nenne ->: MENIN, p. 25, BIB:DENK.DOC.
Das Kenomén ist eine Denk- und Erkenntnismethode, die bestimmte Begrenzungen des westlichen Denksystems überwinden helfen soll. Sie gründet sich auf das sokratische "Ich weiß, daß ich nicht weiß", auf Arbeiten von Cusanus in "Docta Ignorantia" und wesentlich auf die Shunyata-Lehre des Nagarjuna. Dieser Aspekt soll hier weiter behandelt werden.

1.1. Das Ende der europäischen Bewußseinsgeschichte

Die große geistige Tradition des Westens besteht im "Wissen des Wißbaren", auch "Wissenschaft" genannt. Die Grundlagen hierfür wurden vor 2500 Jahren in einem uns erhaltenen Zeugnis des Parmenides formuliert. Das eindrucksvolle Lehrgedicht des Parmenides: "Vom Wesen des Seienden" soll im Anmerkungsteil auszugsweise wiedergegeben werden: ->: PARMENIDES, p. 28.
Wir stehen heute in einer Situation, in der die Probleme einer vom maßlosen technologisch/kapitalistischen Wachstum bedrohten Welt-Ökologie einerseits, und der völligen Entseelung der westlichen Gesellschaften andererseits zeigen, daß der Westen die "Grenzen des Wachstums" seiner innersten und fundamentalen Grundlagen, der Seele seiner Kultur, erreicht hat. Mit dem Kenomén soll eine Refokussierung auf die Grundlagen des Wißbaren und vor allem des Nicht-Wißbaren gemacht werden. (ANM:WIßBAR [1] ) Die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, und damit letztlich auch die Korrektheit jedes Wissens kann nur durch ein Sichtbarmachen seiner Leerstellen versichert werden, ansonsten verfällt man zu leicht der beabsichtigten oder unbeabsichtigten Selbsttäuschung, das was wir wissen, für das Wißbare zu halten. Man kann sagen, daß das Projekt des Kenomén darauf hin zielt, neue Denkformen zu finden, und damit einen neuen Ansatzpunkt der Kultur, die aus dem Ende der europäischen Tradition entstehen könnte. Ein geeignetes Motto bietet uns ein Zitat von Gotthard Günther:

Die Bewußtseinsgeschichte des Abendlandes und der weltgeschichtlichen Epoche, der Europa angehört, ist zu Ende. Das zweiwertige Denken hat alle seine inneren Möglichkeiten erschöpft, und dort wo sich bereits neue spirituelle Grundstellungen zu entwickeln beginnen, werden sie gewaltsam in dem alten längst zu eng gewordenen klassischen Schema interpretiert. Man kann eben eine alte Logik nicht ablegen wie ein fadenscheinig gewordenes Kleid. Der Übergang von der klassisch-Aristotelischen Gestalt des Denkens zu einer neuen und umfassenderen theoretischen Bewußtseinslage erfordert eine seelische Metamorphose des gesamten Menschen. Einer nicht-Aristotelischen Logik muß ein trans-Aristotelischer Menschentypus entsprechen und dem letzteren wieder eine neue Dimension menschlicher Geschichte.
BIB:GÜN-IDEE , p. 114

1.2. Die Entstehung des trans-aristotelischen Menschentypus

Hiermit ist das Wesen des Unterfangens gegeben. Es handelt sich nicht allein um eine logische oder theoretische Unternehmung, sondern etwas, das den Menschen, die Menschheit und das Universum als Ganzes begreift. Dies ist exakt in dem Sinne, wie Buddha und Nagarjuna auch ihre Lehre von der Leere verstanden wissen wollten. Es geht um die Entstehung des trans-aristotelischen Menschentypus, wie Günther es nennt.

1.3. Die Problematik der Untersuchung des Madhyamika

In der vorliegenden Arbeit geht es darum, die Shunyata-Logik des Buddhismus anhand der Methode Nagarjunas zu untersuchen, mit westlichen Denkansätzen zu vergleichen, und nach Möglichkeit mit der heutigen Situation zu verbinden. Eine tiefgehende Untersuchung der Kernkonzepte des Madhyamika Buddhismus ist kein leichtes Unterfangen: Erstens handelt es sich hier um ein System, das als geistiger Antipode unseres westlichen Denksystems betrachtet werden kann. D.h. wenn wir versuchen, das Thema mit unserer gewohnten westlichen Methodik und Denkweise anzugehen, laufen wir Gefahr, uns sofort in den Denkschemata unserer Methode verfangen, und das Wesentliche dieses Ansatzes verlieren. Zweitens ist das, was uns heute an Zeugnissen von Nagarjunas System überkommen ist, in eine Sprache gefaßt, deren richtige Interpretation schon das Funktionieren dieses Denksystems voraussetzt (BIB:BUDDH-STRENG, p.43). Um Nagarjuna zu verstehen, muß man von der Position des Nirvana aus denken können.

1.3.1. Die Besonderheit der Sprachstrukturen

Bei der mohammedanischen Eroberung Indiens wurde der indische Buddhismus ausgelöscht. Nagarjunas Madhyamika war eine seiner charakteristischen Formen. Nagarjuna verband die überragende, von keiner Menschheitskultur mehr erreichte, geistige Kraft des vedisch/brahmanischen Denkens mit den Kernprinzipien des Buddhismus. Andere heute existierende Formen des Buddhismus haben wesentliche strukturelle und inhaltliche Unterschiede, die vor allem in der anderen Denk- und Sprachstruktur ihrer Exponenten begründet ist. Die Madhyamika-Denkweise Nagarjunas ist auf die indogermanische Sprachstruktur des Sanskrit gegründet, und die anderen Formen des Mahayana-Buddhismus, also sowohl der tibetische, als auch der chinesisch/japanische Chan/Zen Buddhismus haben als sprachliche Grundlage die völlig andere Sprachstruktur der mongolischen, und chinesischen Sprachfamilien. Zwar liegt auch der ceylonesische (Pali-) Theravada- (Hinayana) Buddhismus in der indogermanischen Sprachfamilie, aber in dem, was Nagarjuna im Madhyamika ausdrücken will, unterscheidet er sich eben grundlegend vom Theravada. Nagarjuna richtet sich explizit gegen den Scholastizismus der Abidharma-Lehre, ein Problem, das allen indogermanischen Denksystemen gemein ist. Dieses psycho-linguistische Thema ist in dem Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht ausführlich zu behandeln, vor allem nicht die sich anschließende Frage, ob und inwieweit andere Sprachfamilien dieser Gefahr nicht in dem Maße unterliegen. Der Punkt muß daher als Leerstelle im weiteren Denken zumindest mitgeführt werden.

1.3.2. Die Problematik der Übertragung auf moderne Denkweisen

Und letztlich, auch wenn wir die Inhalte rekreieren könnten, so würde uns das, was Nagarjuna im 7. Jh. n.B. (ANM:ZEIT [2]) für seine Mitmönchsbrüder und die brahmanische Elite seiner Zeit gesagt hat, in unserer, durch 2500 Jahre von westlicher Philosophie geprägten Denk- und Seinsweise vielleicht nicht so viel nützen. Wir müssen auch versuchen, Nagarjuna so verstehen, als wenn er in moderner Sprache einen modernen Gedanken ausspricht. Der Buddha hat selber vorausgesehen, daß der Inhalt seiner Lehre (bzw. seiner Leere) in der letzten Epoche, den letzten 500 Jahren, verlorengehen würde. Dies aber ist unsere heutige Zeit, die fünfte Epoche nach Erscheinen des Buddha. Er wußte, daß selbst diejenigen, die in treuem und frommen Glauben an der Überlieferung haften, fehlgehen würden, weil der Buddhismus, wie alle anderen Religionen, ein -ismus werden würde, der den bekannten Gesetzen alles irdischen unterworfen ist, so etwa in der Verkrustung in Form einer Kirche, mit Mönchen, die sich auf eine symbiotischen Koexistenz mit einer Gesellschaft eingerichtet haben, von deren Almosen sie leben, und die den Laien dafür gewisse Rituale anbieten, mit denen sie sich Absolution, oder Verdienste, in irgendeiner Form erwerben können. Wir wollen hierzu eine Stelle aus dem Diamant Sutra zitieren:

Subhuti fragte: Wird es da irgendwelche Wesen geben, in der zukünftigen Periode, in der Endzeit, in der letzten Epoche, in den letzten 500 Jahren, zu der Zeit des Zusammenbruchs der guten Lehre, die, wenn diese Worte des Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen werden?

Der Erleuchtete antwortete: Spreche nicht so, Subhuti! Ja, sogar dann wird es Wesen geben, die, wenn diese Worte des Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen werden. Denn sogar zu dieser Zeit wird es Bodhisattvas geben, die gesegnet sind mit der guten Lebensweise, die gesegnet sind mit den hohen Qualitäten, die gesegnet sind mit der Weisheit, und die, wenn diese Worte des Sutra gelehrt werden, ihre Wahrheit verstehen werden.
BIB:BUDDH-CONZE58 , p. 50

2. Die Wendezeit der Weltkulturen

Nach der Lehre des Buddha und Nagarjunas sind alle Wesen des Universums untrennbar miteinander verbunden, nichts geschieht ohne Auswirkung an allen anderen Dingen und Orten. Daher betrachten wir auch die Entwicklung der Menschheit als Eines. Was im Westen passiert, ist nicht unbeeinflußt vom Osten und umgekehrt. Wir fokussieren zuerst unseren Blick auf die Welt der Entstehung des Buddhismus.

Die Zeit zwischen -700 und -300 ist ein geschichtlicher Augenblick höchster Intensität, eine echte Wendezeit: Anscheinend sind in diesem geschichtlichen Fenster von ca. 300 Jahren die wesentlichen geistigen Weichenstellungen gemacht wurden, die die Geschicke des Planeten bis heute in Atem halten. (ANM:DATIERUNG [3], ANM:EPOCHE [4]) Nach einigen Historikern und Philosophen wurde sie auch Achsenzeit genannt. In dieser Zeit liegt das persische Großreich der Achämeniden (-559 bis -330), welches das erste Mal in der Weltgeschichte die Kulturen des fernen Asiens, des Zweistromlandes, Ägyptens, und Europas in Verbindung brachte. In dieser Zeit differenzieren sich die uns interessierenden Hauptlinien des philosophischen Denkens der Menschheit:

1) Das Erwachen des griechischen und abendländischen Denkens, das Auftreten der ersten griechischen Naturphilosophen: Pythagoras , Thales , Anaximander , Parmenides und Heraklit . Kurz danach die berühmten Philosophen der Athener Schule: Sokrates, Plato, und Aristoteles.

2) In Indien Siddharta Gautama Shakyamuni Buddha , und gleichzeitig mit ihm und praktisch am selben Ort ein anderer, weniger bekannter, in Indien aber mindestens genauso verehrter Heiliger: Mahavira , der 24. Tirthankara der Jaina -Religion.

3) In China lebten zu dieser Zeit Lao Tsu und Kung Fu Tse oder Konfuzius .

4) Und in Persien lehrte Zoroaster oder Zarathustra seine Lehre vom Absoluten Dualismus zwischen dem Gott des Lichts Ahura Mazda und dem Herrn der Finsternis Ahriman . Dieser Dualismus ist die Grundlage der Logik des Aristoteles , des "Tertium non Datur " und damit der gesamten heutigen Wissenschaft. (s.a. BIB:GEBSER73 , 126)

Der signifikante Unterschied zwischen der Philosophie des Westens und den östlichen Systemen des Buddhismus und des Taoismus ist dieser: Der Westen entwickelte sich von Parmenides über Plato und Aristoteles in ein System der Substanz (der ousia, oder des Seienden) und der Osten entwickelte die Systeme der Leere: Die Shunyata und das Tao. Es war fast wie eine globale Verabredung, daß sich just in diesem Zeitabschnitt an so verschiedenen Orten des Globus Denker fanden, die eine derartig diametrale Fundamentierung des Denkens der Menschheit aufstellten.

2.1. Das gesellschaftliche Umfeld zur Zeit des Buddha

Der "Mittlere Weg", den der Buddha lehrte, muß vor dem soziopolitischen Hintergrund der indischen Gesellschaft seiner Zeit gesehen werden. Dazu eine kurze Rekapitulation der Geschichte.

2.1.1. Die erste Eroberung Indiens durch die Arier

Zwischen -3000 und -1500 drangen die arischen Eroberer in Indien ein und zerstörten die ur-indische drawidische Zivilisation, die uns hauptsächlich durch die Stadtstaaten Mohenjo Daro und Harappa bekannt ist. Diese Zivilisationen waren auf einer höheren Entwicklungsstufe gewesen, als die der arischen Eroberer. Sie unterhielten rege Handelsbeziehungen zu Sumerien, und besaßen eine Schrift. Die Städte wurden vernichtet, die Bevölkerung unterjocht, und alle kulturellen Zeugnisse der alten Zivilisation vernichtet. (ANM:SCHRIFT [5]) Das Kern-Epos der indo-arischen Kultur, der Rig Veda, entstand um diese Zeit. Sein Inhalt ist sehr vielschichtig, und auf einer Ebene werden die Ereignisse der Eroberung beschrieben, so die "Heldentaten" der Arier und ihres kulturellen Leitheros Indra.

2.1.2. Die Entstehung des indischen Kastensystems

In der Folge installierten die arischen Eroberer ihr bekanntes Kastensystem, das wohl perfekteste Herrenmenschen/Untermenschen-Herrschaftssystem der Weltgeschichte. Es überdauerte alle Stürme der Zeit und besteht bis zum heutigen Tage. Die höchsten Kasten der Brahmanen und Kshatrias rekrutierten sich aus den Eroberern, während die drawidischen Ureinwohner durch dieses System über Jahrtausende in einer Diener- und Sklavenrolle fixiert worden waren. Im Vergleich zu den Sklavensystemen der europäisch/orientalischen Antike fällt die ideologische Durchstilisierung auf, die den Unterdrückten über die Karma-Doktrin ihre Lage auch noch logisch erklärbar machte. Es war also wesentlich weniger externer Druck und Gewaltanwendung nötig, als in den europäisch/orientalischen Sklavensystemen, um die Untermenschen bei der Stange zu halten. Die römische Antike war ja öfter von Sklavenaufständen erschüttert worden, und man mußte die Gesellschaft immer auf einem hohen Grad der Militarisierung halten, um die Sklaven von der Rebellion abzuschrecken. Dies war in dem indischen System nicht nötig, und so war es wesentlich stabiler, und überlebte folglich einige tausend Jahre länger als die europäisch/orientalischen Sklavenhaltersysteme.

2.1.3. Die brahmanische Opferreligion der Arier

Die brahmanische Religion der Arier, die auf den Veden beruhte, hatte sich bis zur Zeit Buddhas in ein barockes System von komplizierten Opfer-Ritualen ausgeformt, das nur von den Brahmanen in jahrelangem Training erlernt und ausgeführt werden konnte. Das Entwicklungsmuster solcher ritualistischer Systeme ist immer dasselbe und läßt sich in allen Priester-Kulturen ähnlich beobachten: Die Priester leben von den Opfern der Gläubigen, für die sie die Rituale ausführen. Um einer sich vermehrenden und sich spezialisierenden Priesterschaft ein entsprechend größeres Umsatzvolumen zu ermöglichen, müssen notwendigerweise die Rituale immer komplizierter und undurchschaubarer werden. Analoges läßt sich auch bei den modernen Gesellschaften heute beobachten, in denen die Spezialisierung der Ärzte, Rechtsanwälte, und Wissenschaftler und die Vermehrung der Staatsdiener immer zunimmt, bis sie das gesellschaftlich tragbare Maß übersteigt. Dies können wir sehr gut an unserer heutigen Situation sehen, wie der Dauerkrise des Krankheitssystems, die die gesellschaftliche Tragfähigkeit zu sprengen droht. Eine ähnliche Situation war zur Zeit Buddhas im arischbrahmanischen System der Opferpriesterschaft entstanden.

2.1.4. Buddhismus und der Kulturkampf der arischen und drawidischen Systeme

@:KULTURKAMPF
Der alte drawidische Volksglaube war natürlich nie vollständig auszurotten gewesen, und es fand durch die Jahrtausende eine allmähliche Vermischung des arisch-brahmanischen Systems mit dem drawidischen statt, ebenso wie die anfangs blau-blond-arischen Eroberer allmählich immer dunkler wurden. Das Ergebnis dieser Vermischung ist die heutige hinduistische Religion. Der Shivakult z.B. ist ein vor-arischer Kult. Die Urreligionen stellten auch die Mehrzahl der Asketen, Sadhus, Munis, etc. mit denen das indische spirituelle Universum so reich gesegnet ist. Diese suchten die Erleuchtung im do-it-yourself Verfahren, ohne die Vermittlung der Priester-Hierarchien. Dadurch waren sie der offiziellen brahmanischen Religion natürlich ein Dorn im Auge. Buddha war ein Kshatria, also ein Mitglied der Herrengesellschaft. Er hatte also auch seine Klasse verraten, als er sich in den Jahren seiner Askese solchen Gruppen anschloss. Sein Mittelweg, den er dann verkündete, war daher auch ein Mittelweg zwischen der streng hierarchisch organisierten brahmanischen Priester-Herrschaft, und der anarchischen Sadhu-Subkultur. Und so organisierten sich im Gefolge des Buddha die Mönchsgemeinschaften als ein Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen.

2.2. Der Pfeil, der nie geflogen ist

Es wird eine schöne Legende berichtet, mit der Buddha das Ziel und die Methode seiner Lehre exemplarisiert - Das Pfeilgleichnis: Ein Mann ist von einem vergifteten Pfeil getroffen worden, aber als ihn ein Arzt behandeln will, sagt der Mann: "Bevor du mich behandelst, möchte ich zuerst wissen, wer diesen Pfeil abgeschossen hat, was für eine Bauart der Bogen ist, von dem er abgeschossen wurde, etc etc." Der Buddha sagt: Der Mann ist längst gestorben, bevor er Antwort auf die Fragen bekommen kann. Daher lehrt er die Methode, die Verletzung zu heilen, und nicht, die Gründe der Verletzung zu finden.

Dies mag zur damaligen Zeit ein schlagkräftiges Argument gewesen sein. Ob es heute noch so akzeptiert werden kann, möchte ich hier in Zweifel stellen. Ich meine, daß es bestimmte Wesenstypen von Menschen gibt, die sehr wohl davon profitieren können, zu wissen, wie der Pfeil geflogen ist. Die heutige Menschheit hat gegenüber den Zeiten von Buddha sicher keinen moralischen oder ethischen Fortschritt gemacht, eher das Gegenteil. Daher sind Methoden, die bei der ethisch-moralisch-emotionalen Existenz des Menschen ansetzen (wie sie der Buddha in seinem achtfachen Pfad formuliert hatte), nur noch von wenigen Menschen durchführbar. Aber die Fähigkeiten des logischen und formalen Denkens sind in unserer Zivilisation sehr verbreitet. Und das ist bei der hier vorliegenden Sachlage auch relevant. Wir können das Pfeil-Gleichnis nämlich herumdrehen: Wenden wir z.B. das Zenosche Paradox (des Pfeils, der nie fliegen kann) auf das Gleichnis des Buddha an, dann sehen wir: Der Pfeil konnte nie fliegen, weil er irreal ist, und daher sehen wir, daß unser Patient auch nicht getroffen worden sein kann, und er leidet lediglich an einer Halluzination, und wir rufen ihm zu: Nimm Dein Bett und wandele!

Die Irreführung, die Maya, oder das Samsara, ist eine spezifische und systematische Verzerrung des Wahrnehmungs- und Existenzsystems der Menschen. Das radikale Erkennen der Struktur dieser Verzerrung ermöglicht uns die Neuprogrammierung unserer existenziellen Systeme. Dies ist die Methode der richtigen Erkenntnis, die bei einem bestimmten Typ von Menschen der Ansatzpunkt für die Transformation ist. Und mit dieser Methode wollen wir uns jetzt beschäftigen.

3. Nagarjuna formuliert die Madhyamika-Lehre

Nagarjuna aus Berar in Mittelindien (ca. +100) war Brahmane, hatte also die extreme geistige Schulung durchlaufen, die für diese Gruppe charakteristisch ist. Zu den Selbstverständlichkeiten, die diese Menschen im Schlaf beherrschten, war das Memorieren von ganzen Bibliotheken von Text: Die Veden, Upanishaden, die Opfergesänge u.v.m. Die mnemonischen Leistungen, die diese Menschen vollbrachten, sind von keiner Menschengruppe in keiner Zivilisation je wieder erreicht worden. Dies muß berücksichtigt werden, wenn man sich der speziellen Variante des Buddhismus zuwendet, der Nagarjuna angehört. (ANM:VEDA [6] )

Nagarjuna kann als der erste, größte und tiefste buddhistische "Logiker" des Denkens der Leere gelten. Er gründete die Schule des Madhyamika, und hat als erster ein philosophisches System des Mahayana geschaffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß das für die Mathematik essentielle Konzept der Null (shunya) aus der Philosophie der Leere des Nagarjuna abgeleitet ist. (ANM:NULL [7])

4. Sein oder Werden, das ist hier die Frage

Shakespeare hat mit seinem unscheinbaren Zitat "Sein oder Nichtsein" seinen Protagonisten Hamlet zum Stellvertreter der grundlegendsten aller Fragen der menschlichen Denksysteme gemacht. Diese Frage steht am Beginn sowohl der westlichen als auch der östlichen Philosophie, und sie wurde, je nach Zeit und Ort, verschieden beantwortet. Parmenides hat diese Kernfrage so formuliert:

estin e ouk estin -- es ist oder es ist nicht

Dies ist die erste uns erhaltene Fassung des fundamentalsten Satzes westlichen Denkens, den man auch unter einem anderen Namen kennt:

Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten.

Plato sagt zum Thema des Sein und des Werdens:

Zuerst nun haben wir meiner Meinung nach folgendes
zu unterscheiden : Was ist das stets Seiende und kein Ent-
stehen Habende und was das stets Werdende, aber nimmer-
dar Seiende; das eine ist durch verstandesmäßiges Denken (28 a)
zu erfassen, ist stets sich selbst gleich, das andere dagegen
ist durch bloßes mit vernunftloser Sinneswahrnehmung ver-
bundenes Meinen zu vermuten, ist werdend und vergehend,
nie aber wirklich seiend. Alles Entstehende muß ferner
zwangsläufig aus einer Ursache entstehen. Denn für alles
ist es unmöglich, ohne Ursache zu entstehen.
BIB:PLATO-WERK7 , 27d-28a

Parmenides formulierte seinen Satz etwa zur gleichen Zeit wie der Buddha seine Lehre von der Shunyata. Wie das Pfeilgleichnis verdeutlicht, war es dem Buddha im Gegensatz zu seinen griechischen Zeitgenossen nicht daran gelegen, die Natur der Dinge zu ergründen, sondern er wollte nur das hinreichend nötige Wissen vermitteln, um die Kettung an die Welt des Gegenständlichen zu überwinden. Das war die wesentliche Weichenstellung, nach der die buddhistischen und westlichen Denksystems dann in eine gegensätzliche Richtung divergierten.

4.1. Das Seiende als sprachliche Kategorie

Es war den Griechen wohl nicht bewußt, daß sie mit ihrer Philosophie lediglich ein semantisches Schattenspiel aufführten, das auf den grammatischen Regeln der griechischen Sprache beruhte. (ANM:EXKLUSIV [8] ) Aristoteles hatte dieses Spiel auf seinen Höhepunkt getrieben, und die gesamte westliche Welt hat in den folgenden 2300 Jahren nichts anderes getan, als in den von ihm gelegten Bahnen weiterzuarbeiten. Dies ist es, was am Anfang mit der "klassisch-aristotelischen Gestalt des Denkens" bezeichnet worden war.

4.2. Die Ontologie als Epiphänomen der Sprachstruktur

Wir müssen uns vergegenwärtigen, das das Denken des Seienden dermaßen tief in das westliche Bewußtsein eingedrungen und integriert ist, daß es uns kaum möglich ist, etwas anderes als von dieser Kategorie Gebildetes zu denken. Das macht uns schon einer der Grundbegriffe der westlichen Philosophie klar: Das Wort "Ontologie". Wir reden in der Philosophie von der Ontologie aller möglichen Dinge und Begriffe, sogar von der Ontologie des Werdens. Das ist aber ein Widerspruch in sich selbst. Es gibt keine Ontologie des Werdens, da es kein Sein des Werdens gibt. Es gibt nur verschiedene Vorstellungen von Werden, und wenn unser ganzes Denksystem auf Seiendes ausgerichtet ist, dann können wir uns etwas unter "Werden" vorstellen, das aber immer und ewig an den Kategorien des Seienden ausgerichtet ist. (Zu dieser Problematik auch die Zitate aus BIB:BUDDH-STRENG weiter unten.)

4.2.1. Das Seiende als Sprachmagie

Das Seiende ist nichts anderes als ein Artefakt (also ein Nebenprodukt) einer sprachlichen Kategorie. Wir Menschen der westlichen Zivilisation haben uns so daran gewöhnt, die Namen und Bezeichnungen die wir den Dingen geben, mit den Dingen selber gleichzusetzen, daß es höchstes Erstaunen und höchste Ungläubigkeit, sogar Ablehnung und Feindlichkeit hervorruft, wenn man das ernsthaft in Zweifel zieht. Die Benennung der Dinge entspringt dem fundamentalen Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Hier ist die enge Verbindung von Namensgebung und Magie offenbar. Einem Ding einen Namen geben, heißt, es den magischen Bann des menschlichen Vorstellungs- und Manipulationsvermögens zu ziehen. Und nichts anderes als das ist auch die heutige Naturwissenschaft, die die Manipulation der Dinge auf die Spitze getrieben hat. (S.a. BIB:HAARMANN92)

4.2.2. Heraklit verliert gegen Parmenides

Es hatte im alten Griechenland eine Auseinandersetzung zwischen der Denkschule des Parmenides und des Heraklit gegeben, bei der die Partei Heraklits unterlag. Während Parmenides der Vertreter des Seienden war, war Heraklit der Exponent des Werdens. Er hatte erkannt, daß trotz unserer eifrigen sprachlichen Bemühungen nichts auch nur einen Augenblick konstant blieb. "Panta rei -- alles fließt" war sein Grundsatz. Man kann nicht in den selben Fluß zweimal steigen. Diese Denkrichtung war es, die Buddha im Osten ausformulierte. Zur selben Zeit hatte aber der Taoismus in China mit Lao Tsu und Chuang Tsu eine analoge Formulierung gefunden (Siehe das Tao Te King.). Dies ist essentiell, weil der Chan Buddhismus, aus dem sich das japanische Zen entwickelte, mühelos auf die schon vorhandene Denkbasis des Tao-Denkens aufsetzen konnte. Hier liegt auch ein Ansatzpunkt, zu forschen, ob die mongolische Sprachfamilie, der das Chinesische und das Tibetische angehören, sprachliche Dispositionen hat, denen diese Denkform leichter fällt.

4.3. Die Logik des Werdens

Das buddhistische Verständnis der Welt beruht auf der Erkenntnis, daß das erlebte Leben, das Sein des Menschen, die Welt, das Samsara, nicht auf Sein im Sinne von irgendetwas unverrückbar Daseiendem beruht (ANM:SEIENDES [9]). Die Lehre von der bedingten Entstehung besagt vom Leben: Es ist ein Prozess, ein immerwährendes Werden. Wobei die Idee des Immerwährenden natürlich schon wieder eine Seinskatogorie durch die Hintertür einführt. Es ist in unserer von 2500 Jahren Denken des Seins geprägten Sprache nicht möglich, überhaupt das Konzept adäquat auszudrücken, da wir mit jedem Wort wieder zurück in die Kategorien des Seins fallen. Daher spricht Nagarjuna in jedem zweiten Satz von der Leere. Eine Welt, deren Basis auf einer "Onto"-Logie des Prozesses aufgebaut ist, ist für die Ontologie des Seienden eben leer, weil es mit keiner Kategorie dieser Ontologie zu erfassen ist. Das Werden ist transkategoriell.

4.4. Wenn das Wörtchen "Werden" nicht wär

Unser täglicher unbedenklicher Gebrauch des Wortes "Werden" und aller seiner Ableitungen, wie etwa dem oben gebrauchten "Prozess" täuscht uns darüber hinweg, daß dieses Wort eine linguistische Tretmine, ein semantischer Wolpertinger ist. Zenos Paradoxien beruhen darauf, daß in einem semantischen Universum des Seienden, wie es nun einmal die indogermanische Sprachfamilie ist, das Werden keinen Platz hat. Und so konnte er seine Zeitgenossen, ebenso wie uns heute noch, an der Nase herumführen. Wir können das Werden eben nur als einen mehr oder weniger unerklärlichen Übergang zwischen zwei oder mehreren unterscheidbaren Zuständen des Seienden wahrnehmen (oder eher: falschnehmen). Hier tritt aber der unvermeidliche und unüberbrückbare logische Bruch auf, auf den Zeno hingewiesen hat. Eine Logik aristotelischer Prägung läßt sich nur auf der Basis des Seienden erstellen, im Bereich des Werdens gibt es keinen Satz von der Identität, vom Widerspruch, und vom ausgeschlossenen Dritten.

Das semantische Universum unserer sprachlichen Vorstellungswelt ist topologisch. Unsere Begriffe formen ein semantisches Netzwerk, das durch seine Assoziativität auf eine ebenso oder noch wesentlich komplexere Weise miteinander verwoben und verknüpft ist wie die Neuronen unseres Nervensystems über die Dendriten. Die Erfindung der Schrift hat diesem System seinen Flux geraubt, den es vorher (den Menschen unmerklich) immer hatte: Die Bedeutung der Worte und ihre Relationen untereinander veränderten sich vor der Schrift von Generation zu Generation. Erst mit der Schrift und den durch sie ermöglichten Arbeiten des Aristoteles und der Stoa, und ihrer Nachfolger wurde dieses System zu einem Struktursystem von Bedeutungen, die trotz der immer weitergehenden Fluktuation der gesprochenen Sprachen in den letzten 2500 Jahren eine ziemliche Konstanz bewahrt hat.

4.5. Das Nirvana als Verlassen des Werdens-Prozesses

Fundamental to an understanding of nirvana is the perception of the reality of "becoming" for which nirvana ist the answer. If we see that the "becoming" is a fundamental ontological category denying the static "being", then there is no need for a static ontological substratum to undergird a "process of becoming"; and the question of whether there "is" or "is not" something remaining when there is no longer fabrication of existence does not apply.

Fundamental für ein Verständnis des Nirvana ist das Erkennen der Realität des "Werdens", für die das Nirvana die Antwort ist. Wenn wir sehen, daß "Werden" eine fundamentale ontologische Kategorie ist, die das statische "Sein" verneint, dann gibt es keine Notwendigkeit für ein statisches ontologisches Substrat, welches dem "Prozess des Werdens" als Fundament unterliegt. Und so wird die Frage sinnlos, ob da "irgendetwas" übrigbleibt oder nicht, wenn es keinen Prozess der Erzeugung von Existenz mehr gibt.
BIB:BUDDH-STRENG , p. 81

Wir müssen hier die Frage stellen, ob wir mit dem westlichen Verständnis von Ontologie überhaupt noch arbeiten dürfen, oder ob es sicht nicht mehr um eine "Onto"-Logie handelt, ein Grundverständnis, bei dem das Ontische selbst herausfällt.

By clearly understanding that there is no absolute essence to which "emptiness" (or "nirvana" and "perfect wisdom") refers, we recognize that when emptiness is described as inexpressible, inconceivable, and devoid of designation, it does not imply that there is such a thing having these as characteristics. Emptiness is nonsubstantial and nonperceptible. As "nonsubstantiality" does not indicate non-existence, but a denial that things are real in themselves, so "non-perceptibility" does not mean a state of unconsciousness; rather, it serves to check the inclination to substantialize phenomena through conceptualization. Thus, "emptiness" itself is empty in both an ontological and an epistemological sense: "it" is devoid of any self-sufficient being, and it is beyond both designations "empty" and "non-empty". Only if both senses are kept in mind can we see how Nagarjuna relates the "emptiness of the phenomenal world" to the "emptiness of any absolute entity or assertion".

In der Übersetzung möchte ich shunyata als Terminus technicus beibehalten. Es hat keinen Sinn, ihn übersetzen zu wollen. Seine Leerheit wirkt dadurch umso besser, je weniger Bedeutung wir in ihn hineininterpretieren.

Indem wir klar verstehen, daß keine absolute Esszenz vorhanden ist, auf die shunyata hinweist, erkennen wir, wenn shunyata als unausdrückbar, unvorstellbar, und bar jeder Bezeichnung beschrieben wird, daß dies nicht impliziert, daß es da ein Ding gäbe, das diese Bezeichnungen als Charakteristiken besitzt. Shunyata ist insubstantiell und unerkennbar. Insubstantialität bedeutet nicht "Nicht-Existenz", sondern lediglich die Verneinung, daß die Dinge aus sich selbst heraus wirklich sind. Daher meint Unerkennbarkeit auch nicht einen Zustand der Unbewußtheit; sondern es dient dazu, die Tendenz einzudämmen, die Phänomene durch Konzeptualisation zu verdinglichen. Daher ist shunyata selber leer sowohl im ontologischen wie im epistemologischen Sinne. Sie ist leer eines jeden selbst-genügenden Seins, und sie ist jenseits beider Charakterisierungen "leer" und "nicht-leer". Nur wenn wir beide Seiten im Sinn behalten, können wir sehen, wie Nagarjuna die "Leerheit der phänomenalen Welt" mit der "Leerheit jedweder absuluten Entität oder Annahme" in Beziehung setzt.

BIB:BUDDH-STRENG , p. 80

Solche Formulierungen machen klar, warum die Philosophie Nagarjunas von den mehr aristotelisch orientierten westlichen Philosophen als ein Haufen von Kraut und Rüben angesehen wird.

4.6. Die Sprachstrukturen des Seienden

Nach der Sapir-Whorf Hypothese (BIB:WHORF56 ) wird das Denken der Menschen durch ihre Sprache dominiert oder sogar determiniert. Wenn uns unsere Sprachstruktur, die Grammatik, mit ihrer alles dominierenden Form von "Subjekt-Prädikat-Objekt" suggeriert, daß da immer ein "seiendes" Subjekt sein muß, das an einem "seienden" Objekt etwas "tut", dann kann man irgendwann einmal nicht mehr den Gedanken fassen, daß es auch anders sein könnte. Whorf hat uns Beispiele von Indianersprachen gegeben, die auf völlig anderen Sprachkategorien beruhen, als unsere indogermanischen (und semitischen) Sprachen. Griechisch, die Wurzelsprache des westlichen Denkens, und Sanskrit, die der indischen Philosophen, sind indogermanische Sprachen, deren Kategorien auf solche Konstrukte optimal eingerichtet sind. Die mongolisch altaische Sprachfamilie, der auch Tibetisch und Chinesisch angehören, hat andere Kategorisierungen, die ich hier aber mangels genauerer Kenntnisse nicht explizit behandeln kann, und lediglich als Leerstelle betrachten muß.

4.7. Die Shunyata als quasi-formaler Operator

Mit dem Konzept der Shunyata hat Nagarjuna die einzig mögliche Form in einer indogermanischen Sprache gefunden, etwas kategorisch Unausdrückbares auszudrücken. In der heutigen Wissenschaft weist die Quantenphysik auf Realitäten hin, die unsere bekannten Kategorien des objektiven und subjektiven Seins hinter sich lassen. Und unsere Begriffssysteme sind auch darüber hinausgekommen. Die formale Logik und Mathematik, wie sie mit Leibniz als einem der großen Urheber gegeben ist, ist ein Symbolismus, der auf seine Weise etwas macht, was Nagarjuna vorweggenommen hat. Die formalen Sprachen der Logik operieren mit ihren Zeichen rein auf der Basis der Erscheinung des Zeichens, völlig unbeachtet einer Bedeutung des Zeichens. Nagarjuna hat mit seiner Logik der Leere etwas vorweggenommen, das die Erscheinungen der phänomenalen Welt genauso inhaltsleer und bedeutungslos macht, wie die logischen Symbole der formalen Sprachen inhaltsleer sind. Die Gesetze der Bedingten Entstehung lassen sich ohne weiteres in die Kategorien formaler Rechenregeln übersetzen, so daß wir in der Logik des Nagarjuna den informellen, und auf die menschliche Existenz angewandten Vorläufer unserer modernen formalen Sprachen erkennen können. Insofern gibt es kein "Sein" des Nirvana, es gibt kein "Sein" des Tathagata, sie sind alle leer, wie auch die unzähligen von den Bodhisattvas hinübergeführten Wesen, die nie existiert haben. Unsere jetzige Existenz, in der wir uns als beseelte, individuelle Lebewesen begreifen, ist nichts als ein inhaltsleerer Kalkül, von der Seite des Nirvana-Denkens oder Kenomén aus gesehen.

5. Das Prajnaparamita Sutra:
Der Stein der Weisen des Nirvana-Denkens

Nagarjunas Werk ist das Ergebnis der Anwendung des vedisch/indogermanisch/logischen brahmanischen Denkens auf die in den Prajnaparamita Sutras enthaltene Kondensation der Lehren des Buddha. Nagarjunas Ausführungen sind eher trocken, abstrakt, und enthalten nichts von den Empfindungswerten, die mit dem Erreichen des Nirvana-Denkens oder Kenomén verbunden sind. Diese Beschreibungen finden wir in den Prajnaparamita Sutras (der Weisheit, die die Horizonte hinter sich gelassen hat). Das "Summum Bonum" der Prajnaparamita:


GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SVAHA

in die moderne Sprache des Kenomén übertragen:


Gegangen, gegangen, jenseits der Horizonte gegangen
die Gesamtheit des universalen Bewußtseins
die Klarheit
Aha!

Zur damaligen Zeit sprach man noch von dem anderen Ufer, zu dem hin mit dem kleinen Boot des Hinayana oder mit dem großen Boot des Mahayana der Strom des Samsar überquert werden mußte, um das rettende Ufer des Nirvana zu erreichen. Heute dreht es sich darum, die Horizonte des aristotelisch-zweiwertigen Denkens und des Denkbaren, Begreifbaren, Manipulierbaren, hinter uns zu lassen, uns nicht mehr von den Spiegelungen unserer Gedanken täuschen zu lassen. Es ist auch nicht mehr eine Sangha, die Gemeinschaft der buddhistischen Mönche und Laien, die den Übergang sucht, sondern es ist das gesamte Universum, das bewußte Universum, so wie es Plato im Timaios und Teilhard de Chardin in seinen Werken formuliert hat. Das gesamte Universum ist bewußt, alle Wesen dieses Universums sind miteinander verbunden, keines ist getrennt von keinem anderen. Kein Stein, kein Staubkorn, kein Wassertropfen ist getrennt. Wir Menschen bilden eine Kristallisationsfläche, an der sich das Bewußte reflektiert. (ANM:BEWUSST [10] ) Wir sind die Subjektivität der Reflexion des Universums. Aber durch diese Subjektivität in keiner Weise bevorzugt oder ausgenommen, abgelöst, oder speziell. In dem Augenblick, in dem wir unsere Einheit mit dem Universum erfahren, erfüllt uns die unendliche Klarheit der Erkenntnis, die jenseits des Denkens liegt, die Prajnaparamita. Dafür gibt es keine Worte mehr, und wir sagen nur noch: Aha!

5.1. Shunyata als Gegenkonzept zur ousia

Die Seins-Existenz (siehe dazu auch ANM:ARISTOTELES [11] ) der Dinge wird im Buddhismus negiert. Nagarjuna vollzieht in seinen Lehren eine Diskussion, die aussieht, als wäre sie als genaues Gegenstück zu der Metaphysik des Aristoteles gedacht. Während Aristoteles dort sein Konzept der ousia entwickelt, baut Nagarjuna mit der shunyata das konsequente Gegenbild dazu auf. (ANM:EINFLUSS [12] ).

Der Begriff des eigenen Wesens (svabhava = ousia?):
Eigenes Wesen bedeutet nach Nagarjuna, der indischen Wortbedeutung entsprechend, ein Sein aus sich selbst und nur durch sich selbst bedingt, unabhängig von allem anderen. Daraus folgt aber, daß ein solches eigenes Wesen nicht entstanden ist, weil es nicht verursacht sein kann, und daß es nicht dem Vergehen unterworfen ist, weil sein Bestehen von nichts anderem abhängt. Es ist daher ewig und unveränderlich. Und so folgert denn Nagarjuna, daß die Dinge der Erscheinungswelt, weil sie dem ständigen Werden und Vergehen unterliegen, kein eigenes Wesen besitzen können. Sie sind also wesenlos, d.h. unwirklich.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 173

In diesem Denkzug geht Nagarjuna einen ähnlichen Weg wie Plato (siehe das obige Zitat aus Timaios). Dieser relegiert die Welt der phänomenalen Erscheinungen in den Bereich der Doxa, also des Meinens, Scheins und sich Täuschens und nimmt allein die Ideen als wirklich an. Ideen aber sind Wesen in einem semantischen Universum. Damit hat sich Plato aber genau in den Gitterstäben jenes semantischen Universums der indogermanischen Sprachfamilie gefangen, das schon erwähnt worden ist.

5.2. Die Theorie des Anatman

Das Konzept des Atman der brahmanischen Lehre ist weitläufig mit der abendländischen Idee der menschlichen Seele, also des individuellen Wesenskerns (der nach christlicher Doktrin unsterblich ist), zu vergleichen. Das Atman hat als Wesenskern Teil an der Existenz des Jenseitig-Seienden Brahman und die Realisation des Aufgehens des Atman in Brahman ist die Erleuchtung im vedantischen System nach Shankara. Diese Systematik ist wiederum mit der Unio Mystica der jüdisch/christlich/islamischen Religionen zu vergleichen. Dadurch, daß man eine solche Existenz verneint, befreit man sich von einer Menge vergeudeter Energie, die im Westen und im Brahmanismus in die theologische Spekulation um die Natur und Art des Jenseitig-Seienden investiert wurde. Weiterhin befreit man sich von der Last der Spekulation darum, wie dieses Jenseitig-Seiende denn nun zu erreichen sei.

5.3. Die Theorie der abhängigen Entstehung

Die Persönlichkeit eines Wesens (z.B. Menschen) wird durch einen Prozess gebildet, dessen Komponenten sich gegenseitig bedingen, den Skandhas. Es ist ziemlich sinnlos, diesen Begriff übersetzen zu wollen, wie etwa bei Conze mit "Haufen". Da ist eine Herangehensweise im Sinne einer formalen Logik mit bedeutungslosen Zeichen schon sinnvoller, oder aber man läßt den Term so wie er ist: (Die architektonische Betrachtungsweise basiert nicht auf Begriffen, sondern auf der Struktur, eben der Architektonik, deren Eigendynamik dann die Bedeutung der Begriffe erzeugt.) Die wesentliche Eigenschaft der Skandhas ist, daß sie kein Sein haben, also nicht unabhängig von irgendetwas anderem existieren. Sie sind z.B. nicht definierbar und es gibt keine apriorischen Begriff davon. Wir können den Skandhas zwar konventionelle Namen geben, aber mit der Warnung, daß keiner glauben darf, daß die Skandhas "etwas sind":

Avalokita, der heilige Gebieter und Bodhisattva, begann die Bewegung seines Geistes aus der Prajnaparamita, der Weisheit, die die Horizonte hinter sich gelassen hat. Er schaute hinab von jener Perspektive, und er stellte fest, daß lediglich fünf Skandhas vorhanden waren, und er sah, daß diese in Ihrem Selbst-Sein leer waren.
BIB:BUDDH-CONZE58 , p. 78-79

5.4. Die fünf Skandhas

Die Skandhas sind die fünf Bestandteile unserer Persönlichkeit, so wie sie erscheint. In der Analyse können alle Gegebenheiten unseres Erlebens - von uns selbst und von Objekten in Relation zu uns - mit der Begrifflichkeit dieser Skandhas erfaßt werden, ohne das nebulöse Wort "Ich" einzuführen.
BIB:BUDDH-CONZE58 , p. 79

Hier, O Sariputra, Form (rupa) ist Leere (shunyata) und gerade die Leere ist Form; Leere ist nicht verschieden von Form, und Form ist nicht verschieden von Leere; was auch immer Form ist, das ist Leere, was auch immer Leere ist, das ist Form, und dasselbe betrifft Gefühle (vedana), Sinneswahrnehmungen (samjna), Impulse (samskara), und Aufmerksamkeit (vijnana).
BIB:BUDDH-CONZE58 , p. 81

Die fünf Skandhas werden hier genannt: Form, Gefühle, Wahrnehmungen, Impulse, und Aufmerksamkeit. Die Übersetzungen sind nur als annähernd zu betrachten. Vergleichen wir damit die Argumentation des Aristoteles in der Metaphysik. Für ihn ist morphae die Form, und hylae mater/matrix/materie/stoff, das wesentliche Gegensatzpaar in seiner Diskussion des letztlich Seienden. Für ihn ist die Form das Seiende, die ousia. Seine Form und die platonische Idee erfüllen damit denselben Zweck.

5.5. Die Fata Morgana des Seienden

Die 2500 Jahre währende Suche westlicher Philosophie nach einer absoluten Esszenz des Seienden, die in eine logisch zwingend notwendige Existenz eines allmächtigen, und allwissenden Agens, den Omnipotenzoperator, genannt "Gott" geführt hat, und so großartige Geistesgebäude wie die Philosophie des Thomas Aquinas hervorgebracht hat, ist eine Jagd nach der Fata Morgana. Notwendigerweise mußte die westliche Suche der Denker und Mystiker sich in immer höhere Höhen hinaufschwingen, um der grandios hochstilisierten Omnipotenz ihres Gottes gerecht zu werden. Die Erkenntnis Buddhas und Nagarjunas ist dagegen ernüchternd: Die Idee des "ultimaten", "absoluten", "jenseitigen", "transzendenten", die "Erleuchtung" als irgendein großes Licht, das (deus ex machina) erscheinen soll, ist Teil der jahrtausende alten Selbsttäuschung, daß da irgendetwas großartiges Transzendentes ist, das jenseits unserer Existenz liegt. Diese Fata Morgana gilt es zu überwinden und zu transzendieren. Die simple Erkenntnis der Prozesshaftigkeit der Existenz, und der absoluten Transkategorialität des Nirvana, die in nichts anderem als dem Wesen des Prozesses begründet liegt, in dem wir uns befinden.

6. Die Logik der Befreiung

Das Leiden, so wie vom Buddhismus verstanden, ist eine Folge der semantischen Fixierung. Die Menschen sind die einzigen Lebewesen, die sich ein linguistisches Bild von den Zuständen machen, so wie sie sind, und so wie sie (nach Meinung der Menschen) sein sollten. Tiere und Pflanzen nehmen die Welt so wie sie ist. Sie versuchen nicht, sie zu beeinflussen, sondern passen sich ihr an, und leben ihr Leben, bis es sein Ende erreicht, und sich ihre zellulare Substanz wieder mit dem großen Ozean der Biomasse des Planeten vereinigt. Die organischen Substanzen der Zellen überleben in der planetaren Biosphäre die Lebensspanne der Einzelindividuen, und sind damit quasi unsterblich. Auch das Leben des Planeten ist endlich, aber um wieviele Größenordnungen länger als das der Individuen! Für uns jedenfalls sind die ca. 10 Milliarden Jahre Lebensspanne des Planeten nichts weniger als die Ewigkeit.

Der Mensch schafft sich mit seiner Sprache ein Schatten-Universum, das dadurch umso realer erscheint, als wir ja immer in Gesellschaft leben, also eine Konsensus-Realität mit unseren Mitmenschen errichten. Diese Konsensus-Realität hat aber sehr oft sehr wenig mit der Situation im Universum zu tun. (ANM:KULTUR-TOD [13] )

Die Absicht Nagarjunas ist es, innerhalb der Kategorien der indogermanischen Sprache eine ähnliche Art von Paradoxien aufzustellen, wie Zeno es getan hat. Er führt damit den in der Semantik implizit enthaltenen Realitätsanspruch von Sprach- und Denkkonstrukten ad absurdum und verweist auf das, was mit Sprache nicht zu fassen ist: Die Shunyata. Das Sprach/Denksystem ist ein autonomer Prozess, der in unseren Gehirnen abläuft, von dem wir uns hypnotisieren lassen. Wir können aber diesen Prozess in seiner Automatik einfach weiterlaufen lassen, und unsere Aufmerksamkeit von dem Automatismus abwenden. Gelingt uns das, so sind wir in Nirvana eingetreten.

Die Erscheinungswelt (samsara) und das Nirvana sind ein und dasselbe. Es besteht zwischen ihnen nicht der geringste Unterschied. Daraus folgt aber auch, daß das Nirvana nichts Getrenntes für sich ist, das man erlangt, indem man sich von der Erscheinungswelt befreit. Es besteht vielmehr nur darin, daß man den Trug der Erscheinungswelt nicht mehr wahrnimmt, indem die Vielfalt, auf die sie sich gründet, zur Ruhe kommt.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 175

6.1. Madhyamakakarika

Es folgen einige Verse aus Nagarjunas Hauptwerk, der Madhyamakakarika:

Den Buddha, der das abhängige Entstehen verkündet hat als ohne Vernichtung und ohne Entstehen, ohne Aufhören und nicht ewig, ohne Einheit und ohne Mannigfaltigkeit, ohne Kommen und ohne Gehen, als das friedliche Zurruhekommen der Vielfalt (prapancah), ihn, den trefflichsten der Lehrer, verehre ich.

Weder aus sich, noch aus anderem, noch aus beiden, noch ohne Grund sind jemals irgendwo irgendwelche Dinge entstanden.

Denn das eigene Wesen der Dinge ist in den Ursachen usw. nicht vorhanden. Wenn aber kein eigenes Wesen vorhanden ist, dann ist auch kein fremdes Wesen vorhanden.

Es gibt vier Ursachen, den Grund, den Anhaltspunkt, die unmittelbar vorhergehende und die bestimmende Ursache. Eine fünfte Ursache gibt es nicht.

Die Wirkung hat keine Ursache. Die Wirkung ist aber auch nicht ohne Ursache. Ebenso sind die Ursachen nicht ohne Wirkung, sie haben aber auch keine Wirkung.

Wovon das Enstehen eines (Dinges) abhängt, das gilt als seine Ursachen. Solange es aber nicht entsteht, wieso sollten sie solange nicht Nichtursachen sein?

Weder bei einem nichtseienden noch bei einem seienden Gegendstand ist die Ursache am Platz. Denn wessen Ursache ist sie, wenn er nicht ist? Wenn er aber ist, wozu dient dann die Ursache?

Wenn weder eine seiende, noch eine nichtseiende, noch eine seiende und nichtseiende Gegebenheit entsteht, wieso ist dann ein hervorbringender Grund möglich?

Von der seienden Gegebenheit wird gelehrt, daß sie ohne Anhaltspunkt ist. Wenn sie aber ohne Anhaltspunkt ist, woher sollte dann ein Anhaltspunkt kommen?

Solange die Gegebenheiten nicht entstanden sind, kommt die Vernichtung nicht zustande. Daher ist die unmittelbar vorhergehende Ursache nicht möglich. Ist dagegen die Vernichtung eingetreten, was soll dann Ursache sein?

Da es bei wesenlosen Dingen kein Sein gibt, ist es unzulässig, zu sagen: Wenn dieses ist, wird jenes.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 178-180

Nagarjunas Diskussion folgt in ihrer Form den Paradoxien des Zeno, geht aber in genau die entgegengesetzte Richtung. Seiendes ist ewig und kennt keine Ursache. Dies wird auch von Plato in dem Timaios-Zitat oben schon so formuliert. Ein werdendes Ding benötigt eine Ursache, um zu werden. Damit etwas werden kann, muß irgendeine Form, ein Gedanke oder eine Idee dieses Dings schon existieren. Dies wäre aber wieder ein Seiendes, das keine Ursache benötigt. Also sind Ursachen unmöglich. Dies ist eine Problematik der Unterscheidung zwischen den Begriffen, die wir uns von den Dingen machen, und der stillschweigenden Annahme, daß da irgendwelche Dinge für sich existieren. Wir können in der Diskussion Nagarjunas natürlich nicht von "einem Ding-an-sich" nach Kant oder aristotelischen Kategorien des Seienden reden, da er diese ja gerade explizit ausschließt. Die Diskussion Nagarjunas ist eine petitio principii, und daher nicht widerlegbar. Daher kann man Nagarjuna auch nicht so ohne weiteres einen Trugschluß anhängen, wie Frauwallner es tut (a.a.o. p. 176).

6.2. Vigrahavyavartani

Hier einige Auszüge aus Vigrahavyavartani (Streitabwehrerin). Es ist ein Dialog mit einem Herausforderer, der behauptet:

"Wenn es überall bei allen Dingen kein eigenes Wesen gibt, dann ist deine eigene Rede wesenlos und nicht imstande, ein eigenes Wesen zu widerlegen."

Worauf Nagarjuna sagt:

Wenn meine Rede weder in den Gründen, Ursachen und ihrer Gesamtheit,
noch in getrenntem Zustande vorhanden ist,
dann ist doch die Leerheit der Dinge erwiesen,
eben wegen ihrer Wesenlosigkeit.

Das abhängige Entstehen der Dinge wird nämlich Leerheit genannt. Denn ein Ding, das abhängig entsteht, ist wesenlos.

Ohne die Leerheit der Dinge zu verstehen und
ohne den Sinn der Leerheit zu kennen,
hast du es unternommen, einen Tadel vorzubringen,
(indem du sagst):

Wegen der Leerheit deiner Rede ist deine Rede wesenlos.
Mit deiner wesenlosen Rede ist aber eine Widerlegung
des Wesens der Dinge nicht möglich."
Das abhängige Entstehen der Dinge ist nämlich ihre Leerheit.
Wieso? Wegen ihrer Wesenlosigkeit.
Dinge, welche abhängig entstanden sind,
sind ohne eigenes Wesen, weil ihnen ein eigenes Wesen fehlt.
Wieso? Weil sie von den Gründen und Ursachen abhängig sind.
Wenn die Dinge einem eigenen Wesen nach bestünden,
dann würden sie auch ohne Rücksicht auf Gründe und Ursachen bestehen.
Das ist aber nicht der Fall.
Daher sind sie wesenlos.
Und weil sie wesenlos sind, werden sie leer genannt.
Somit ist erwiesen, daß auch meine Rede,
weil sie abhängig entstanden ist,
wesenlos ist, und weil sie wesenlos ist, leer ist.
Wie aber Wagen, Kleider, Töpfe usw.,
obwohl sie abhängig entstanden und daher
von eigenem Wesen leer sind, trotzdem ihre verschiedenen Wirkungen ausüben,
nämlich das Holen von Holz, das Holen von Erde,
das Enthalten von Honig, Wasser und Milch,
das Schützen gegen Kälte, Wind und Hitze usw.,
ebenso führt diese meine Rede, obwohl sie
abhängig entstanden und daher wesenlos ist,
trotzdem den Nachweis der Wesenlosigkeit der Dinge.
Wenn du daher gesagt hast: Deine Rede ist wegen ihrer Wesenlosigkeit leer und
wegen ihrer Leerheit ist es nicht möglich,
durch sie das eigene Wesen aller Dinge zu widerlegen,
so ist das nicht richtig.
BIB:BUDDH-FRAUW58, p. 200-202

7. Die Lehre Nagarjunas für die heutige Zeit

Die Erlebnisqualität einer längerdauernden Beschäftigung mit Nagarjunas Lehren ist das Gefühl einer gewissen Leere in der Magengrube. Irgendwie fühlt man sich an das berühmte ägyptische Märchen vom Krokodildoktor erinnert:
Krankheit weg, Patient gefressen, Krododil satt, alles paletti.
Oder wir können sagen, hier haben wir den Erfinder der universellen Relativitätstheorie vor uns, 1700 Jahre vor Einstein. Alles ist relativ zu allem anderen. Nichts ist sicher, fest, bekannt, verläßlich. (ANM:RELATIV [14] ) Der aristotelische westliche Verstand steht vor einem riesigen Scherbenhaufen von zerschmetterten Konzepten über die Realität der Dinge und fragt sich, ob das Ganze nicht vielleicht doch nur ein grober Unsinn gewesen ist.

Aber das wäre ein Fehlschluß. Die Shunyata-Lehre Nagarjunas kann nicht allein für sich betrachtet werden. Ebenso wie er alle Dinge als gegenseitig abhängig betrachtet, und nichts allein für sich, so ist sein System abhängig von dem scholastischen System des Abidharma und den brahmanischen Systemen seiner Zeit. Gegen diese richtet er seine Dialektik, aber ohne sie wäre sie tatsächlich völlig unsinnig. Das ist das Problem des heutigen Verständnisses, da wir diesen Kontext nicht mehr sehen. Nagaruna verneint keinesfalls die Gültigkeit konventioneller Weisheit, und als solche bezeichnet er die Lehren des Wissens, gegen die er argumentiert. Im Gegenteil: Ebenso wie er wohl alle brahmanischen Schriften und die Abhidarma-Lehren kannte und vielleicht sogar auswendig rezitieren konnte, so muß die Anwendung dieses Wissens vom Wißbaren geschehen, mit seiner Shunyata-Lehre als immer präsente Mahnung und Warnung, nicht dem verführerischen Zauber der Sprache zu verfallen. Und diese Warnung gilt für die heutige Wissenschaft ebenso wie damals:

It is the danger of language to posit an essential reality within ideas.
BIB:BUDDH-STRENG, p. 53

8. Die Weisheit in Freiheit

Die Weisheit des Buddhismus ist prajna, die Beziehung-der-Leere zu allen Dingen, in totaler Freiheit. Weisheit als der Weg zur Erlangung der totalen Freiheit ist die größte Gefahr einer unentrinnbaren Kettung. Wenn Weisheit als "Ding-an-Sich" erfaßt und begriffen wird, dann verwandelt sie sich sofort in eine verführerische Spiegelung. Wenn sie als eine fixierte Position errichtet wird, wird sie zur mentalen Falle, und entwickelt die ihr eigene zerstörerische Dynamik.

Die prajnaparamita ist Weisheit ohne ein Objekt des Wissens.

frei nach BIB:BUDDH-STRENG, p. 82

9. Die Archae:
Gemeinsamer Urgrund westlichen und östlichen Denkens

Im griechischen Denken finden wir Hinweise auf ein Konzept, das der shunyata ähnlich ist, die archae.

9.1. Hesiod und das Chaos: Im Anfang war die Leere

Wir finden in der Theogonie Hesiods den Ausspruch: "Im Anfang war das Chaos." Chaos wird in seiner normalen heutigen Bedeutung als "ungeordnet", "unwirklich", eben "chaotisch" verstanden. Die wesentliche Bedeutung für Hesiod ist aber: Der leere, unermeßliche Raum. Die absolute Leere. Die Archae, der Ursprung, ist etwas, das mit den Kategorien des Seienden nicht zu erfassen ist, und für diese Kategorien daher leer. Hier liegt der Urgrund, aus dem die gegensätzlichen Denksysteme der Europäer und des Buddhismus entstanden sind. Plato war sich noch durchaus dieser Bedeutung der archae bewußt, denn er hat im Timaios, 48 c explizit angegeben, daß der Ursprung der Dinge außerhalb der Behandlung mit Worten und Begriffen liegt:

Über den "Ursprung von allem" oder die
"Ursprünge" oder wie man es sonst damit hält, soll jetzt nicht
gesprochen werden, und zwar aus keinem anderen Grunde,
als weil es schwierig ist, unsere Meinung bei der gegenwärti-
gen Weise der Behandlung deutlich darzulegen. Glaubt also
ihr nicht, ich müsse darüber sprechen, noch dürfte ich selbst
imstande sein, mir selbst einzureden, daß ich mich wohl mit
Fug an ein solches Unternehmen wagen dürfe.

9.2. Das Wort Archae

Das griechische Wort archae hat eine Mehrfachbedeutung, deren zeitlose Vielgestaltigkeit uns heute noch begegnet: In vielen Lehnwörtern, die unser westliches Denken den bahnbrechenden Leistungen der griechischen Philosophen verdankt, ist eine oder andere Bedeutung von archae erhalten: Archäologie, archaisch, Archiv, Monarchie, Oligarchie, Anarchie, Hierarchie, Patriarch, Arch-Bishop, Archangel.

Das Wort archae bedeutet:
1) Anfang, Beginn, Anfangspunkt, Ursache, erste Veranlassung, (phil.) Prinzip.
2) Anführung, Herrschaft, Obrigkeit
3) Reich, Gebiet, Statthalterschaft
4) Ur-Grund, Wesensgrund

9.3. Die Suche nach der Archae

Das Bestreben der vorsokratischen Philosophen richtete sich auf die Nennung einer Ursubstanz, aus der alle Dinge der faßbaren Welt entstanden sein sollten. Hier schieden sich somit die Geister westlichen und östlichen Denkens. Die westliche Philosophie blieb in der Folge dem Substanzbegriff verhaftet. Man versuchte, wahlweise das Wasser, das Feuer, oder andere Elemente zur Ursubstanz zu erklären. Es könnte scheinen, als ob die Griechen der damaligen Zeit eine Art naiven Realismus als Grundlage ihrer impliziten Erkenntnistheorie genommen hätten. Das "Seiende" des Parmenides und einige Aussagen des Heraklit weisen darauf hin. Allerdings muß hier, wie bei allen Deutungsversuchen der vorplatonischen Zeit, sehr darauf geachtet werden, daß wir nicht unsere heutigen Denkkategorien den damaligen Begriffen aufzwingen. Daher auch die oben genannte Differenzierung der griechischen Sprache. Wenn Heraklit sagt: "Feuer ist vernunftbegabt" so hatte er sicher keine naive Vorstellung von dem Herdfeuer als intelligent, sondern er bezog sich auf eine Tradition von mindestens einer Million Jahren in der Archae des Menschengeschlechtes, während der das Feuer das wesentliche Kultobjekt war. So gesehen, ist die Feueranbetung der Zoroastrischen Religion der letzte Überrest dieses ältesten Kultus der Menschheit. Das Feuer als quasi-autonomer Prozess, der sich aus seiner eigenen Dynamik ernährt, hat Eigenheiten, die es tatsächlich sehr in die Nähe von Intelligenz rücken.

10. Anmerkungen

10.1. Jean Gebser: Menin aeide Thea

@:MENIN
Der Begriff des Kenomén

Kenomén wird mit der Betonung auf der letzten Silbe ausgesprochen. Daher der Akzent. Das griechische wort keno bedeutet dasselbe wie shunya in Sanskrit: Leere. Das Wort men hat eine sehr reichhaltige Bedeutung:

Menin aeide Thea -- Singe mir vom Zorn, O Göttin!

Menis -- dieses Wort ist das Anfangswort unserer abendländischen Kultur, die obige Stelle stammt aus dem Anfang der Ilias , des ersten Gesangs der ersten großen abendländischen Äußerung (BIB:GEBSER73 , p.127). Menis ist das Grundelement, der Archetyp des westlichen, abendländischen Menschen.

Der Leser wird nun bei der Bezeichnung "mental " sogleich den Begriff "Mentalität " assoziieren, und zwar der deutschsprachige Leser in einer ausschließlicheren Weise als zum Beispiel der englische, französische, italienische oder spanische Leser, für den das Wort "mental" ja noch einen lebendigen Inhalt besitzt. Durch eine so einseitige Assoziation wird der Sinngehalt, den das Wort "mental" birgt, auf eine unzulängliche Weise eingeschränkt, weil das Wort "Mentalität" mehr als nur die moralische Komponente einer Gesinnung und Einstellung zum Ausdruck bringt; dabei haben aber ihrerseits die beiden Begriffe "Gesinnung" und "Einstellung" bereits durchaus perspektivischen Charakter.

Wir wählen diese Bezeichnung "mental" aus zweierlei Gründen zur Kennzeichnung unserer heute noch vorherrschenden Bewußtseinsstruktur. Erstens enthält das Wort in seiner ursprünglichen Wurzel, die im Sanskrit "ma" lautet, aus welcher sekundäre Wurzeln wie "man-" , "mat-", "me-" und "men-" hervorgingen, nicht nur eine außerordentliche Fülle von Bezügen, sondern vor allem drücken die mit dieser Wurzel gebildeten Wörter sämtlich entscheidende Charakteristika der mentalen Struktur aus. Zweitens ist dieses Wort das Anfangswort unserer abendländischen Kultur, denn es ist das erste Wort der ersten Zeile des ersten Gesanges der ersten großen abendländischen Äußerung: dieses Wort, "mental" ist in dem menin (dem Akkusativ von: Menis) enthalten, mit dem die "Ilias" beginnt.

Das griechische Wort menis, das "Zorn" und "Mut" bedeutet, ist stammverwandt mit dem Wort menos, das "Vorsatz, Zorn, Mut, Kraft" bedeutet und mit dem lateinischen "mens" urverwandt ist, das ungemein komplexe Bedeutung hat: "Absicht, Zorn, Mut, Denken, Gedanke, Verstand, Besinnung, Sinnesart, Denkart, Vorstellung". Mit diesen Inhalten ist bereits das Grundlegende gegeben: es handelt sich um das ansatzmäßige In-Erscheinung-Treten des gerichteten Denkens. War das mythische Denken, soweit man es als ein "Denken" bezeichnen darf, ein imaginierendes Bilder-Entwerfen, das sich in der Eingeschlossenheit des die Polarität umfassenden Kreises abspielte, so handelt es sich bei dem gerichteten Denken um ein grundsätzlich andersgeartetes: es ist nicht mehr polarbezogen, in die Polarität, diese spiegelnd, eingeschlossen und gewinnt aus ihr seine Kraft, sondern es ist objektbezogen und damit auf die Dualität, diese herstellend, gerichtet, und erhält seine Kraft aus dem einzelnen Ich.

Dieser Vorgang ist ein außerordentliches Geschehen, das buchstäblich die Welt erschütterte. Mit diesem Ereignis wird der bewahrende Kreis der Seele, die Eingeordnetheit des Menschen in die seelische, natur- und kosmisch-zeithafte polare Welt des Umschlossenseins gesprengt: der Ring zerreißt, der Mensch tritt aus der Fläche hinaus in den Raum; ihn wird er mit seinem Denken zu bewältigen versuchen. Etwas bisher Unerhörtes ist geschehen, etwas, das die Welt grundlegend verändert. Der Mythos von der Geburt der Athene malt es in Bildern und Bezügen, die eine deutliche Sprache sprechen: Zeus vermählt sich mit der Metis, die als Personifikation der Vernunft und der Intelligenz aufgefaßt wird, und als eine der Töchter des weltumschließenden Okeanos (-Stromes) die Gabe der Verwandlung besitzt (107). Zeus jedoch verschlingt Metis, weil er die Geburt eines Sohnes befürchtet, der mächtiger werden könnte als er, so daß Metis, schon mit der Tochter schwanger, in seinen Leib versetzt wird. Diese Tochter Athene wird aus dem Haupte des Zeus geboren, wobei ihm Hephästos oder Prometheus oder Hermes mit einem Beile das Haupt spalten. Pindar beschreibt diese durch den Beilschlag ausgelöste Geburt, die unter furchtbarem Aufruhr der ganzen Natur und unter dem Staunen aller Götter erfolgte. Das Meer (die große, umfassende Seele) wallt hoch empor; der Olymp und die Erde (die bislang polar einander zugeordnet waren) erbeben (und das sorgsam beobachtete Gleichgewicht ist gestört) ; ja selbst Helios unterbricht seinen Lauf (der Kreis ist tatsächlich unterbrochen worden, und aus der Lücke, der Wunde, tritt eine neue Weltmöglichkeit hinaus).
(BIB:GEBSER73 , 126-129)

Dem entscheidenden Bewußtseinssprung in der griechischen Welt steht um 1225 v. Chr. ein Beispiel gegenüber, in einer Kultur, die ebenfalls für die unserige konstituierend geworden ist, und in dem das zürnende Element eine bedeutende Rolle spielt: der zürnende Moses , der mit der Schuld des Tötens behaftet ist, ist der Erwecker des Volkes Israel , dem er folgerichtig den strafenden, einzigen Gott gegenüberstellt. Das ist die Geburt des Monotheismus : die Gegengeburt zu dem im Menschen erwachten Ich. Und damit ist es die Geburt des Dualismus : hier Mensch, dort Gott, die sich dualistisch gegenüberstehen und sich nicht mehr polar entsprechen oder ergänzen; denn der einzelne Mensch ist nicht der Gegenpol zu Gott; wäre er es, bedürfte es nicht des Mittlers. Hier entsteht bereits die Trinität , welche die dreidimensionale mentale Struktur mitcharakterisiert. Wir deckten den Bezug auf, der zwischen dem Denken und dem Zorn, zwischen dem griechischen "Menos ", dem lateinischen "mens " und der griechischen "Menis" besteht. Der Zorn, nicht als blinder, sondern als denkender Zorn, gibt dem Denken und der Handlung Richtung; und er ist rücksichtslos, das will besagen: er sieht nicht nach rückwärts, er wendet den Menschen fort von der bisherigen mythischen Welt der Eingeschlossenheit und ist vorwärtsgerichtet, wie die zielende Lanze, wie der in den Kampf stürzende Achill . Er einzelt den Menschen von der bis anhin gültigen Welt - der Ton liegt auf Mensch - und ermöglicht sein Ich. Diese Betonung des Wortes Mensch ist durchaus nicht zufällig. Denn ob "mens" , "Menis" oder "Mensch" - sie sind aus der gleichen Wurzel.

Gehen wir diesen Zusammenhängen nach (109), so ergibt sich die folgende Grundbezüglichkeit, in der die mentale Struktur gründet: aus der Wurzel "ma", die "Denken" und "Messen" bedeutet, gehen die Sekundär-Wurzeln "man", "mat", "me" und "men" hervor. Der Wurzel "man-" entspringt das altindische (Sanskrit -)Wort "manas ", das "innerer Sinn, Geist, Seele, Verstand, Mut, Zorn" bedeutet; und ihr entspringt das Wort "manu", das im Sanskrit den "Menschen, Denker und Messenden" bezeichnet; auf dieses Wort gehen ferner zurück (um nur einige zu nennen): das lateinische "humanus", das englische "man", das deutsche "Mann ", aus dessen Adjektivform "männisch" das Wort "Mensch " entstand.

Sehen wir davon ab, daß selbst das lateinische "humus", das "Erde" bedeutet, hierher gehört (110), so muß doch betont werden, daß außer dem Namen des indischen Gesetzgebers "Manu " auch der des kretischen Königs "Minos " und der des ersten "geschichtlichen" Königs Ägyptens, "Menes ", auf diese Wurzel "man " zurückgehen dürften. Jedenfalls kann es als erwiesen gelten, daß "Minos" geradezu der "Wäger" beziehungsweise der "Messer" (der Wägende oder Messende) bedeutete (111), womit auch inhaltlich seine Verwandtschaft mit dem indischen "Manu" gegeben ist. Man dürfte nicht fehlgehen, wenn man in dem fast gleichzeitigen Auftauchen dieser drei legendären Gestalten, die ein menschheitliches Mutationsprinzip verkörpern, einen Hinweis auf eine erste Sichtbarwerdung der mentalen Bewußtseinsstruktur erkennen wollte: denn wo der Gesetzgeber in Erscheinung tritt und nötig wird, da ist das alte Gleichgewicht (das ein polar-mythisches war) gestört, und es beginnt jenes Setzen und Fixieren, das es wiederherstellen soll. Nur die mentale Welt bedarf des Gesetzes, die in der Polarität geborgene mythische Welt bedarf seiner nicht und kennt es nicht. Im frühgriechischen Kulturkreis dürfte dieses mentale Prinzip nicht nur in den Namen "Menerfa, Metis, Hermes und Prometheus" aufleuchten; vielleicht enthält auch der Name des Königs von Mykene, Agamemnon, sicher wohl aber der des Königs von Sparta, Menelaos, dieses mentale Prinzip, da alle diese Namen die Wurzel "ma: me" beziehungsweise deren Sekundärwurzel enthalten. Auch mag es nicht zufällig sein, daß um des Menelaos' Gemahlin Helena, welche die Schwester der Klytaimnestra und die Schwägerin des Agamemnon war, jener Trojanische Krieg entbrannte, der den Sieg des Vaterprinzips über das Mutterprinzip darstellen dürfte (s. S. 223 42 u. 43).

Gehen wir jedoch den anderen Sekundärwurzeln nach. Als zweite haben wir die Wurzel "mat" genannt. Aus ihr entspringen die Sanskritwörter "matar" und "matram": "matar" wird zum griechischen mates und metes (mater und meter gleich "Große Mutter"); aus ihm bildet sich unter anderen unser Wort "Materie"; "matram", das ein "Musikinstrument" bedeutet, kehrt in diesem Sinne im griechischen metson (metron) wieder; aus ihm bildet sich unser Wort "Meter".

Schon hier sei darauf hingewiesen, was uns später (s. S. 301 u. 333) ausführlicher beschäftigen wird: daß die ursprüngliche Wurzel "ma: me" latent und komplementär auch das weibliche Prinzip enthält. Denn das griechische Wort für "Mond", men (men), geht auf diese Wurzel zurück. Und die Sekundärwurzel "mat" erlebt ja in der heutigen patriarchalen Welt ihre Glorifizierung, die sich in dem Beherrschtsein des rationalen Menschen durch die "Materie" und den "Materialismus" zu erkennen gibt (112). War der Mond für den frühen Menschen der zeitliche Maßstab, so ist die Materie für den heutigen Menschen der räumliche Maßstab.

Schließlich gehen aus den Wurzeln "me-" beziehungsweise "men-" nicht nur die zahlreichen griechischen Verben (113) hervor, die alle in mehr oder minder starker Form einerseits: "zürnen, grollen", andererseits "verlangen, begehren, trachten, streben, im Sinne haben und ersinnen" bedeuten, wobei die Tatsache betont werden muß, daß sie ein gegen jemanden gerichtetes Trachten, Streben und Ersinnen zum Ausdruck bringen. Und auf diese Wurzel geht durch alle germanischen Sprachen hindurch über das griechische medomai (medomai), das "an etwas, auf etwas denken" (also ein durchaus gerichtetes Denken) bedeutet, unser "ermessen" zurück, das sowohl "messen" wie "erwägen" und "bedenken" ausdrückt. Sie bildetete das englische Wort "mind", aber auch das lateinische "mentiri ", das "lügen" bedeutet (!). Und es sei noch erwähnt, daß sie das griechische Fragewort ti in der Wendung ti men (ti men) - "Warum ?" als verstärkendes Element begleitet und so die Frage mitformt, die am Anfang aller Wissenschaften steht, zu deren Schutzgöttinnen sowohl Athene wie Minerva erhoben wurden (114). Die Wurzel, die dem Worte "mental" zugrunde liegt, enthält keimhaft eine ganze Welt, die in der mentalen Strukturierung Gestalt, Form und Wirkcharakter annimmt.
BIB:GEBSER73 , 129-131

10.2. Parmenides: Vom Wesen des Seienden

@:PARMENIDES

B1
Die Pferde, die mich fahren so weit nur der Wille dringt,
zogen voran, da sie mich auf der Göttin vielkündenden Weg
gebracht hatten, der den wissenden Mann durch alle Städte führt.
Auf diesem Weg fuhr ich; denn dort fuhren mich die kundigen Pferde
den Wagen fortreißend; und Mädchen lenkten die Fahrt.
Die Achse in den Naben gab einen hellen Pfeifton,
glühend; so ward sie getrieben von zwei wirbelnden
Rädern zu beiden Seiten, wenn schleuniger sich beeilten
die Sonnentöchter, mich voranzufahren,
hinter sich lassend das Haus der Nacht,
dem Lichte zu, stoßend vom Kopf mit der Hand den Schleier.

Dort ist das Tor der Wege von Nacht und Tag,
und ein Türsturz umschließt es und steinerne Schwelle.
Das Tor selbst, aus Ätherlicht, ist ausgefüllt von großen Türflügeln.
Zu diesem Tor aber hat Dike, die vergeltende,
die ein- und auslassenden Schlüssel.
Ihr nun sprachen die Mädchen zu mit sanften Worten
und beredeten sie klug, daß sie ihnen den mit Bolzen versehenen Riegel
geschwind vom Tor zurückschöbe. Das aber flog auf und
machte weit den Schlund der Türflügel, indem es die erz-beschlagenen
Pfosten, mit Zapfen und Dornen eingefügt, nacheinander
in den Pfannen drehte. Dort also mitten hindurch
gerade dem Wege nach lenkten die Mädchen Wagen und Pferde.

Und freundlich empfing mich die Göttin, ergriff meine
Rechte, redete mich an und sagte das Folgende:
Jüngling, Gefährte unsterblicher Lenkerinnen,
der du mit den Pferden, die dich fahren,
zu unserem Haus gelangt bist,
Heil dir! Denn kein schlechtes Geschick sandte dich
auf diesen Weg - er liegt wahrlich abseits vom Wandel der Menschen -
sondern die Mächte des Angemessenen und Notwendigen.
Du aber sollst alles erfahren,
sowohl der überzeugenden Evidenz unerschütterliches Herz
wie auch die Eindrücke der Menschen, die ohne evidenten Beweis sind;
aber gleichwohl wirst du auch das hören, wie das Geltende
notwendigerweise gültig sein mußte durch alle Zeit hin insgesamt...

Es ist für mich das Gleiche,
von wo ich anfange; denn dahin kehre ich wieder.

B2
Ich werde also vortragen - du aber nimm dich der Rede an, die du hörst -
welche Wege des Untersuchens allein zu erkennen sind.

Der eine, (der da lautet) "es ist, und Sein ist notwendig",
ist der Weg der Überzeugung; denn sie folgt der Evidenz.
Der andere, (der da lautet) "es ist nicht, und Nicht-Sein ist notwendig",
der ist, wie ich dir zeige, ein völlig unerfahrbarer Weg;
denn das Nicht-Seinende kannst du weder erkennen -
denn das läßt sich nicht verwirklichen -
noch aufzeigen. ...

B3
Denn dasselbe ist Erkennen und Sein.
B6
Richtig ist, das zu sagen und zu denken, daß Seiendes ist;
denn das kann sein;
Nichts ist nicht: Das heiße ich dich bedenken.
Denn zuerst halte dich von dem Weg des Suchens fern ...

B7+8
Denn niemals kann das erzwungen werden, daß Nichtseiendes ist.
Sondern von diesem Wege des Suchens halte du den Gedanken fern,
und nicht soll dich die vielerfahrene Gewohnheit auf diesen Weg drängen,
anzuwenden das unachtsame Auge, das dröhnende Gehör
und das Sprechen, sondern argumentierend entscheide
die streitbare Beweisführung,
die von mir vorgetragen ist. Allein also noch übrig bleibt
die Beschreibung des Weges
"es ist". Und auf ihm gibt es sehr viele Zeichen,
sofern Seiendes ungeworfen und ohne Vernichtung ist,
ganz, einzig, ohne Schwanken und in sich vollendet.

Und nicht war es einmal, auch wird es nicht sein,
da es zugleich ganz ist,
eines, zusammenhängend.
Denn welches Herkommen könntest du für es suchen?

Wie und woher gewachsen? Weder "aus Nichtseiendem" werde ich dich
sagen und (erkennend) denken lassen; denn weder sagbar noch erkennbar
ist Nichtseiendes. Und welche Notwendigkeit hätte es auch veranlaßt
später oder früher aus dem Nichts beginnend zu entstehen?

So ist es notwendig, entweder ganz und gar zu sein oder nicht.
Noch auch wird die Kraft des Beweises jemals zulassen,
daß aus Nichtseiendem
etwas neben ihm entsteht. Insofern hat weder zum Werden
noch zum Vergehen Dike es in seinen Fesseln lockernd losgelassen,
sondern sie hält es fest. Die Entscheidung hierüber aber
liegt in der Alternative:

Es ist oder es ist nicht.

Und entschieden ist nun notwendigerweise,
die eine Seite der Alternative unerkennbar und unsagbar
zu lassen, denn sie ist nicht evident;
die andere Seite aber als seiend und wirklich hinzunehmen.

Wie aber könnte dann Seiendes... ? Wie könnte es werden?
Wenn es nämlich wurde, ist es nicht; auch nicht wenn es einmal sein wird.
So ist Werden ausgelöscht und unbekannt Verderben.

Auch ist es nicht unterteilt, da es in seiner Gesamtheit gleichmäßig ist:
und keineswegs ist es irgendwo mehr - was seinen Zusammenhang hindern könnte -
noch etwa weniger, sondern ganz ist es voll von Seiendem.

Demnach ist es ganz zusammenhängend; denn Seiendes stößt an Seiendes.
Und unbeweglich in den Grenzen gewaltiger Fesseln
ist es ohne Anfang, ohne Ende, da Werden und Verderben
in weiteste Ferne verschlagen sind; verstoßen hat sie der evidente Beweis.
Als dasselbe und in demselben verharrend ruht es für sich
und verharrt so fest auf der Stelle. Denn ein mächtiger Zwang
hält es in den Fesseln der Grenze, die es rings umschließt,
weil das Seiende nicht unvollendet sein darf:

Denn es ist ohne Mangel; andernfalls wäre es nicht ganz...
Dasselbe aber ist Erkennen und das, woraufhin Erkenntnis ist.
Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es ausgesprochen ist,
wirst du das Erkennen finden. Denn nichts anderes ist oder wird sein
außer dem Seienden, weil Moira es gebunden hat.

Auszüge und Stellen aus: BIB:PARMENIDES74 und BIB:PARMENIDES69

11. Literatur



BUDDH-CHANG
Chang, G.C.C.
Die buddhistische Lehre von der Ganzheit des Seins
O.W. Barth 1989

BUDDH-CLIFF
The Blue Cliff Record
Trans. T. & J.C. Cleary
Shambhala, Boulder & London 1977

BUDDH-CONZE58
Conze, Edward
Buddhist Wisdom Books
Diamond Sutra and Heart Sutra
Allen & Unwin, London 1958

BUDDH-CONZE
Conze, Edward
Der Buddhismus, Wesen und Entwicklung
Kohlhammer, Stuttgart

BUDDH-DUMOU
Dumoulin, H.
Zen, Geschichte und Gestalt
Bern 1959

BUDDH-FRAUW58
Frauwallner, Erich
Die Philosophie des Buddhismus
Akademie-Verlag, Berlin 1958

BUDDH-FRAUW71
Frauwallner, Erich
Die Entstehung der buddhistischen Systeme
Göttingen, 1971

BUDDH-SCHMIDT
Schmidt, Kurt
Leer ist die Welt
Konstanz 1953

BUDDH-STRENG
Streng, F.
Emptiness, A Study in Religious Meaning
Abingdon Press, Nashville, New York 1967

BUDDH-STCH
Stcherbatsky, T.
The Conception of Buddhist Nirvana
Leningrad 1927

BUDDH-WAHR
Buddha, Gautama
Die vier edlen Wahrheiten
Texte des ursprünglichen Buddhismus
Hrsg. übertr. Klaus Mylius
DTV 1985

DENK.DOC
Umrisse des Leerstellendenkens
Software-Design A. Goppold
Unterherrnhauser Str. 13, 82547 Eurasburg, 1993-1994
250 S.

GEBSER73
Gebser, Jean
Ursprung und Gegenwart
DTV, München 1973

GÜN-IDEE
Günther, Gotthard
Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik
Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen
Felix Meiner Verlag
Hamburg 1978, 2. Auflage

HAARMANN92
Haarmann, Harald
Die Gegenwart der Magie
Campus, 1992

PLATO-BRIEFE
Platon, Briefe
in: Sämtliche Dialoge
Band VI: Timaios, Kritias, Sophistes, Politikos, Briefe
Verlag Felix Meiner, Hamburg 1988

PLATO-DIA6
Platon, Timaios
in: Sämtliche Dialoge
Band VI: Timaios, Kritias, Sophistes, Politikos, Briefe
Verlag Felix Meiner, Hamburg 1988

PLATO-INDIA
R. Baine Harris, Ed.
Neoplatonism and Indian Thought
Int'l Society for Neoplatonic Studies
Norfolk, Virginia 1982

PLATO-TAYLOR
Taylor, A. E.
A Commentary on Plato's Timaeus
Oxford 1928

PLATO-WERK7
Platon, Werke in acht Bänden
Band 7: Timaios, Kritias, Philebos
Hrsg. Günther Eigler
Übers. Schleiermacher
Wissensch. Buchgesellschaft, Darmstadt, 1972

WHORF56
Whorf, Benjamin L.
Language, Thought and Reality
Cambridge. Mass. 1956.
Dt. Sprechen, Denken, Wirklichkeit






[1]ANM:WIßBAR
Ein etwas simplistisches Beispiel soll hier zeigen, wie die Fokussierung auf Gewußtes und Wißbares unter gleichzeitiger Vernachlässigung des Nichtgewußten und nicht Wißbaren ein sehr schiefes Bild eines betrachteten Gegenstandes bilden kann:
Die Zeit von der vermuteten Entstehung der biologischen Spezies "homo xxx" vor ca. 2 Millionen Jahren bis zu etwa -7000, also die weitaus längste Periode der menschlichen Existenz auf diesem Planeten, war eine Periode reger menschlicher Aktivität und kulturellen Schaffens. 99% der kulturellen Schöpfungen der damaligen Menschen waren entweder in Form von Rhythmen, Gesängen, und Ritualen, Geschichten und Mythen, oder in Form von Gegenständen, die aus verwitterbarem Material gemacht worden waren: Holz, Pflanzenfasern, Fell, Leder, Federn. Weniger als 1 % der kulturellen Schöpfungen waren aus haltbarem Material, Stein gemacht. Weil aber nur diese steinernen Relikte zu uns herübergekommen sind, hat man dieses Zeitalter "Steinzeit" genannt, und in weiten Kreisen (und nicht nur bei den Laien) stellt man sich dieses Zeitalter als ein primitives vor, in dem die Menschen dumpf dahinvegetierten, und gegen deren Zustand sich unser heutiges technisches Zeitalter wie der Himmel auf Erden ausnehmen soll. Eine auch einigermaßen aufrichtige Beschäftigung mit einem Thema wie diesem muß immer mit dem Satz beginnen: "Wir können aufgrund der Umstände der Dokumentation nur 0,1% der damaligen Umstände bestenfalls nur grob und schemenhaft zu begreifen hoffen, und wir müssen daher eine Leerstelle einrichten, die wir in allen unseren Überlegungen sichtbar mitführen müssen, als sichtbares Zeichen, daß wir hier einen so riesigen Bereich haben, den wir nie werden wissen können."
[2]ANM:ZEIT
[n.B. bedeutet: nach Buddha. Also etwa 2. Jh. n. Chr. Siehe auch die folgende Anmerkung.
3ANM:DATIERUNG
Wir nehmen uns hier eine gewisse kreative Freiheit in der Datierung. Die Wissenschaft ist sich insbesondere in der Datierung der Östlichen Meister keineswegs einig. Buddha ist auch bis in die Zeit von -300 zu datieren. (BIB:BECHERT82) Bei Zarathustra gehen die Datierungen bis auf -1200. Dies würde ihn damit umso sicherer als den originalen Urheber des Dualismus feststellen. Ebenso variabel ist die Gestalt und die Datierung des Lao Tsu. Auch seine Existenz als historische Person ist keinesfalls erwiesen. Wenn man sich auf geschichtliche Tatsachen zurückziehen will, so ist vermutlich die wichtigste die Gründung des persischen Reiches und die Einrichtung der Seidenstraße, die als völlig überpersönliches kulturelles Medium die östlichen und westlichen Kulturen verbunden hat.
Die Idee von Fokusperioden, in denen globale Entwicklungen offenbar gehäuft auftreten, wurde nach Jaspers auch als Achsenzeit bezeichnet. Wie fast alles in der Geschichte, ist auch eine solche Bezeichnung abhängig von der Optik des Betrachters. Da aber im alten Griechenland der geschichtliche Mensch sozusagen "erfunden" wurde, kann man hier vielleicht mit größerer Berechtigung von einem Fokus der Geschichte sprechen als in anderen Perioden.
Ein weiterer zu bemerkender Punkt ist die Notation der Datierung vor unserer Zeitrechnung. Ich habe die mathematische Notation mit negativen Zahlen anstelle der historisch üblichen Notation mit dem Kürzel "v.Chr." aus folgenden Gründen gewählt: Erstens, weil ich die Nullpunktsetzung für verfehlt halte. Der buddhistische Kalender, der bei ca. -500 ansetzt, reflektiert paradoxerweise wesentlich besser den Beginn der europäischen Geschichte (und damit der Kultur, die die Geschichte erfunden hat), weil hier eben die Leute lebten, mit denen das westliche Denken begann, wie ich oben ausführe. Zweitens: Es ist verfehlt, die historische Datierung anhand von Personen machen zu wollen, deren Wirken hauptsächlich mythischen Charakter hat. Das betrifft sowohl den Buddha, als auch Issa ben Jussuf, den sie den Chrestos nannten. Man kann sogar sagen, daß das größte Hindernis einer wirklichen Geschichtlichkeit diese Fiktion des "v.Chr" und "n.Chr." ist, da hier mit aller Gewalt versucht wird, einem Mythos geschichtliche Existenz anzudichten. Man soll dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und dem Mythos, was des Mythos ist.
[4]ANM:EPOCHE
Whitehead sagt in "Modes of Thought", p. 65:
There is reason to believe that human genius reached its culmination in the twelve hundred years preceding and including the initiation of the Christian Epoch... Of course, since then, there has been progress in knowledge and technique. But it has been along the path laid down by the activities of that golden age. The history of Europe during the past eighteen hundred years is the sequel.
[5]ANM:SCHRIFT
Das arische Indien verlor die Schreibkunst, und erlernte sie erst tausend Jahre später wieder. Es bestehen starke Parallelen zu den dorischen Invasionen, dem griechischen "dunklen Zeitalter" von -1200 bis -900, das auch von dem Verlust des kretisch/minoischen Linear-A/B Schriftsystems begleitet war, und sich erst einige Jahrhunderte später durch Übernahme des phönizischen Aleph-Beth Systems wieder in eine Schriftkultur entwickelte.
[6]ANM:VEDA
Die Inder haben eine für uns moderne Europäer, deren Hirn von Druckerschwärze verfinstert ist, unbegreifliche Fähigkeit ausgebildet, ungeheure Textmassen gedächtnismäßig zu überliefern... ganze Bibliotheken uralter heiliger Texte sind durch die gedächtnismäßige Überlieferung wort- silben- und lautgetreu, sogar im Akzent der einzelnen Silbe genau, durch die Jahrtausende zäh bewahrt. Heute stirbt diese Tradition aus!
Nicht in Stein gemeißelt haben die arischen Inder ihre Geisteswerke, sondern, was länger dauert als verwitternder Stein, in die Gehirne von hundert nachfolgenden Generationen...
BIB:VEDA-LOMMEL, 26,27
Die wichtigsten Werke dieser Überlieferung sind die Veden ab ca. -1200: Rg Veda, Sama Veda, Atharva Veda, Yajur Veda, dann die Brahmanas und die Upanishaden ab -800 bis -500. "Veda" heißt "Wissen". Der Veda war das Wissen der vedischen Kultur. Diese Tradition wurde trotz der Möglichkeit, sie in der Devanagari-Schrift festzuhalten von den Brahmanen bis zum heutigen Tag mündlich überliefert. All diese Hunderttausende von Verszeilen "lebten" in den Geistern dieser Gelehrten. Leider haben wir das zweifelhafte Privilieg, das Aussterben auch dieser Tradition heute mitzuerleben. So notwendig auch die Abschaffung der Privilegien der Brahmanen im Kastensystem nach gesellschaftlichen Kriterien auch war: Es entzog den Brahmanen die ökonomische Basis, auf der sich diese Kaste allein dem Studium dieser (und anderer) Überlieferungen widmen konnte, und ihre Söhne von Kindesbeinen (ab ca. 5 Jahre aufwärts) exklusiv auf die Übermittlung dieser Informationen hin trainieren konnte. In einem modernen Schulsystem, wie es von den Engländern eingeführt wurde, ist das nicht mehr möglich.
Der Rg Veda ist das älteste Literaturdenkmal in einer indogermanischen Sprache. Er ist in einer prä-grammatischen Form des Sanskrit verfaßt, die noch so viele Ähnlichkeiten mit der alten arischen Sprache der Perser im Awesta, aufweist, so daß man sie als zwei Dialekte derselben Sprache erkennen kann. Man kann es auch anders darstellen: Sanskrit ist aus dem Rg Veda entstanden, und man muß erst den Rg Veda verstehen, bevor man Sanskrit verstehen kann. Die epische Struktur der Veden arbeitet außer-mental, oder über-mental.
Die Lyrik... stellt dies nicht dar und erklärt es nicht, es steht überall als Ganzheit dahinter und ist unzerlegbar in einzelne Aussagen...
BIB:VEDA-LOMMEL, p. 30
Über die brahmanische Theokratie gibt es noch folgendes Zitat:
... it was not in the interest of the Rishis to help forward the progress of speculative thought in its advance towards philosophy; but rather to hedge their own religious conceptions with a wall of sancticity, and to bring within this compass the wandering fancies of the people... Extraneous thought and criticism was to them a source of danger, they sought, therefore, to obscure the doctrines of their theology by a multiplication of complicated allusions and dark riddles, with which they might occupy the minds of their hearers...
BIB:VEDA-WALLIS, p. 6
[7]ANM:NULL
Die Diffusion der arabischen Ziffern (arab: sifr=die Leere) von Indien nach Europa ist eine Abenteuergeschichte für sich: Sie wurden ca. +600 erfunden, gelangten dann noch vor der islamischen Eroberung nach Syrien, wurden von den Christen aber nicht angenommen (vermutlich, weil in der Bibel nichts von Ziffern stand) und erst einmal von den Arabern nutzbringend eingesetzt. Die Null war zur Zeit noch nicht erfunden worden, das geschah erst ca. 800. Die Araber übernahmen sie aber so schnell, wie sie in Indien erfunden wurde. Gerbert von Aurillac (der spätere Papst Sylvester II) gebrauchte als einer der ersten im Abendland die arabischen "siffres", aber ohne die Null. Er handelte sich damit den Ruch eines Ketzers ein. Als Papst konnte man ihn nur schlecht verbrennen. Erst gegen 1200 wurde dann das heutige mathematischen Stellenwertsystem mit der Null in Europa bekannt.
[8]ANM:EXKLUSIV
Jede Kultur hatte ihren Exklusivitätsanspruch. Die Juden betrachteten sich als das auserwählte Volk, weil sie den exklusiven Bund mit ihren Gott geschlossen hatten, und die Griechen betrachteten sich wegen ihrer Sprache als auserwählt. Der ganze Rest der Welt waren nur Barbaren, Leute die nur unsinniges Zeug redeten.
[9]ANM:SEIENDES
Wie oben schon angedeutet, ist das Seiende eine linguistische Kategorie. Es existiert nur in dem Universum der Sprache. Dieses Universum ist aber nur mehr oder weniger mit dem erlebbaren Universum der Erde, des Wassers, der Winde, und der Sonne und Sterne in Übereinstimmung zu bringen, egal sehr uns die Naturwissenschaft von einer Identität zu überzeugen versucht. Dies ist nämlich eine völlig unbegründbare (metaphysische) Grundannahme. Und davon ausgehend, kann man es nicht mehr deduzierend beweisen. Das ist der Grundfehler aller naturwissenschaftlichen Ontologien.
[10]ANM:BEWUSST
Die Alternative ist also klar zwischen Bewußt und Sein. Das Wort Bewußtsein ist eine Chimäre, ebenso wie das Werden. Bewußt ist der Gegenpol von Sein. Daher wird in der Sprache des Kenomén auch der Begriff Men verwendet (s.a. ANM:MEN).
[11]ANM:ARISTOTELES
In Metaphysik Buch 7 behandelt Aristoteles die Aspekte des Seienden genauer. Die Begriffe "ousia" und "to ti en einai" sind hierbei von Relevanz.
[12]ANM:EINFLUSS
Die Frage der wechselseitigen Einflüsse der griechischen und indischen Philosophie ist lange diskutiert worden. Es ist allerdings völlig fruchtlos, dies allein auf Basis der überlieferten schriftlichen Zeugnisse tun zu wollen. Da man damals kein Copyright System hatte, zitierte kein Schriftsteller, außer in Ausnahmefällen, namentlich von wem er seine Gedanken übernommen hatte. Plato machte in seinen Schriften genauso bedenkenlos einen Neuaufguß aller seiner Vorgängerphilosophen, wie auch Aristoteles, der sie nur erwähnt, wenn er einmal etwas unfreundliches über sie zu sagen hat. Da die Zahl der lesbaren Bücher ohnehin überschaubar war, wußte sowieso jeder der gebildeten Leser oder Zuhörer, von wem die Idee stammte, die der jeweilige Philosoph dann vortrug.
Wie schon erwähnt, gab es sogar zu den Zeiten der sumerischen Kulturen, also um -3000 bis -2000 schon rege Kontakte zwischen dem dravidischen Indien und der orientalischen Welt. Dieser Kontakt wurde durch das Perserreich dann wieder aufgenommen, und nahm nach den alexandrinischen Feldzügen noch zu. Er riß das ganze Altertum hindurch nicht mehr ab. Um die Zeitenwende verkehrten jährlich 120 Schiffe zwischen dem römischen Imperium und Indien. Ganze Landstriche in Südindien wie Madras lebten vom Handel mit dem römischen Imperium. Als der Neoplatonist Julian Apostata zum Kaiser aufstieg, besuchten ihn viele indische Delegationen, aus so weit entfernten Gebieten wie Ceylon und von den Malediven. Die Pali-Schrift "Questions of Milinda" sollen ein Dialog mit Menander gewesen sein, dem König eines griechischen Territoriums in Indien um ca. -100. (BIB:PLAT-INDIA, p. 10-18)
Plotin hatte am Feldzug des Gordian gegen die Perser teilgenommen, vernehmlich, um mit ihm bis nach Asien zu gehen, und so die indischen Philosophen und Gymnosophisten kennenzulernen. Gordian war aber nicht Alexander und wurde schon zu Beginn des Feldzuges vernichtend geschlagen und ermordet. Plotin konnte nur mit knapper Not sein Leben retten.
Ich habe selber bei einem Besuch in Bangkok eine Buddhastatue gesehen, die im hellenistischen Ghandarva-Stil gefertigt war, mit griechischem Faltenmantel und griechischen Gesichtzügen und allem. Wenn nun eine Buddhastatue im hellenistischen Ghandarva-Stil nicht nur in Indien sondern noch einmal 2000 km weiter östlich, in Thailand zu finden ist, gibt es wohl keinen schlagenderen Beweis dafür, daß zu den damaligen Zeiten sehr intensive kulturelle Kontakte bestanden haben. Eine hellenistische Buddhastatue beweist eine gegenseitige Durchdringung östlicher und westlicher Denksysteme besser als 1000 Seiten gelehrte Schriften. Der über Jahrtausende bewahrte Stilkanon der Buddhastatuen ist nämlich identisch mit dem der antiken griechischen Plastiken: Die Verkörperung des agathon im Bilde des Menschen. Die Buddhastatuen sind sichtbare und jedem, auch den Ungebildeten und Analphabeten, greifbare Zeugnisse des agathon. Wer diesen Kanon kennt, versteht in allen Kulturen und zu allen Zeiten diejenigen, die sich mit diesem Kanon ausdrücken. Es hatte also kaum einer Reise Plotins nach Indien bedurft.
[13]ANM:KULTUR-TOD
Die Historiker haben sich lange und intensiv darüber gestritten, warum Kulturen untergehen, so z.B. das große Werk von Spengler "Der Untergang des Abendlandes". Meine Erklärung für den Untergang der Kulturen ist diese: Eine Kultur tendiert dazu, ein semantisches Universum zu errichten, das im Verlaufe der Reifung der Kultur immer komplexer (barocker, byzantinischer, aztekischer, oder brahmanischer) wird. In den alten Kulturen waren es die Priesterschaften, die dieses Wissen im Gedächtnis hielten. Natürlich mußten all die Priester, die ihr ganzes Leben darauf verwandten, dieses Wissen zu erlernen, zu erhalten, anzuwenden, und zu tradieren, auch irgendwie ernährt werden. Also wurde ein immer größerer Anteil der ökonomischen Energie einer Kultur in den Unterhalt der Priesterschaften kanalisiert. Heute sind es nicht die Priester, sondern die Beamten, Ärzte, Rechtsanwälte, Steuerberater, und Wissenschaftler unserer Gesellschaft, die die Hauptmasse der Produktivkräfte der Gemeinschaft für sich aufbrauchen, nur um den ungeheuren Wust der Gesetzeswerke und wissenschaftlichen Daten irgendwie zu handhaben. Jede Generation von Priestern (oder Ärzte und Wissenschaftler) produziert aber immer noch mehr Gesetzestexte, Vorschriften, und Wissensdaten, so daß die Last des zu Lernenden und Anzuwendenden immer größer wird. Solange, bis das System unter seiner eigenen selbstgeschaffenen Entropie zusammenbricht. Früher warteten natürlich immer die Steppenvölker in den Randgebieten der Imperien: Die Indo-Arier, die Perser, die Germanen, die Mongolen. Heute gibt es keine unerschlossenen Steppenvölker mehr, heute kommt der Zusammenbruch von innen.
[14]ANM:RELATIV
Der russische Indologe Stcherbatsky hat Shunyata konsistent mit Relativität übersetzt. Siehe: BIB:BUDDH-STCH

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